„Rashomon“ von ganz unten

Die französische Reihe „RIP“ erzählt aus sechs Perspektiven von einer Gruppe dubioser Tatortreiniger und einem blutig eskalierenden Einsatz.

Manchmal sterben Menschen einsam. Allein zu Hause, ohne Familie, ohne Angehörige. Dann tritt die Firma auf den Plan, für die Derrick arbeitet. Noch ehe ein Bestattungsunternehmen auftaucht, räumen er und seine Kollegen das Haus oder die Wohnung aus, nehmen alles mit, was irgendwie für irgendwen von Wert sein könnte. Meist sind diese Aktionen eklig und haben mit Pietät nichts zu tun, besonders wenn die „Kunden“ schon eine Weile verblichen sind und Insekten als Lebensraum dienen. Derrick ist das Paradebeispiel eines Losers, das ist ihm auch bewusst. Der miese Job lässt ihn gerade mal so über die Runden kommen und finanziert seinen Suff in der Kneipe. Derrick ist desillusioniert und hat sich mit seinem Schicksal abgefunden. Bis sich eines Tages bei einem neuen, besonders ekligen Einsatz eine einmalige Gelegenheit bietet, die alles verändern könnte…

Was für ein morbides Szenario! Eine halbseidene, dubiose Firma mit ebensolchen Mitarbeitern, die allenfalls halboffiziell Häuser und Wohnungen von Toten plündert. Derrick und seine Kollegen werden stets von den Chefs nach dem Job auf Wertsachen durchsucht. Derricks Kollegen sind ganz „spezielle“ Charaktere: Der junge Albert ist in eine Tote vernarrt, eine ehemalige „Kundin“ der Truppe. Eugène, Ex-Knacki und voller Vorurteile, schlägt erst zu und fragt dann nach. Mike ist ein großmäuliger Angeber und Maurice ein knorriger Einzelgänger, der den Job schon seit 30 Jahre macht. Dann sind da noch der nicht minder unsympathische, dauergereizte Lagerverwalter Dédé und die kesse wie unnahbare Fanette, Wirtin der Kneipe, in der sich die Truppe nach der Arbeit zum Saufen trifft. Die Arbeitsplätze von Derrick und seinen Kollegen wechseln zwar ständig, nicht aber der Gestank und die Insekten. Und natürlich die Anblicke der Toten, deren Verwesungsgrad mitunter Monate auf dem Buckel haben kann – was hier optisch nahezu genüsslich eingefangen wird.

Als Derrick seine Chance heimlich und auf sehr unappetitliche Art und Weise ergreift, verpestet er das ohnehin bereits fragile Arbeitsklima der Truppe. Diverse Katastrophen und Eskalationen sind die Folge – welche, sei nicht verraten, das sollte man sich mit wachsendem Vergnügen schon selbst erlesen. Der Clou an der trocken-drastisch erzählten Reihe „RIP“, die zwischen pechschwarzem Drama, Krimi und Thriller changiert, ist, dass in jedem Band eine andere Figur der Truppe im Mittelpunkt steht. Die Erzählperspektive wechselt, der Handlungszeitraum ist aber immer derselbe (ähnlich wie bei Frank Girouds „Quintett“). Im Auftakt fungiert Derrick als Erzähler, der in den stilisierten Zeichnungen, die den düsteren Plot reizvoll kontrastieren, mit seiner überdimensionalen Kappe wie ein typischer Trump-Hinterwäldler daherkommt. Schon bald geht es mit dem morbiden Trödeltrupp weiter. Kürzlich wurde der zweite Band veröffentlicht, der dritte (von sechs) erscheint Ende Mai.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Julien Monier (Zeichner), Gaet’s (Autor): „RIP“. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. Je 112 Seiten. Je 22 Euro (bislang zwei Bände erhältlich)