Funktionieren

„Ich verschlinge Tardi, Moebius, Comès, Rochette, Lauzier, Gotlib und viele andere“, erinnert sich Guy Delisle fast 40 Jahre später an seine Besuche in einer neu eröffneten Bibliothek in Québec mit umfangreicher Comicabteilung, „das sollte auf Jahre das Fundament meines Kunstempfindens bilden.“ Nächtelang sitzt der jugendliche Delisle im Keller seines Elternhauses und zeichnet, imitiert Stile, übt Perspektiven und Panelaufteilung. Stilistisch hat der 1966 geborene kanadische Comiczeichner zwar mittlerweile eine sehr individuelle Form zwischen detaillierten Architektur- und Landschaftszeichnungen und cartoonhaften Figuren gefunden, diese Lehrjahre Anfang der Achtziger waren für den Pubertierenden jedoch so zentral, dass er ihnen seine aktuelle autobiografische Arbeit gewidmet hat.

Guy Delisle: „Lehrjahre“.
Aus dem Französischen von Heike Drescher. Reprodukt, Berlin 2021. 144 Seiten. 20 Euro

Die Entdeckung der Welt des Comics spielt darin allerdings nur eine – wenn auch nicht unbedeutende – Nebenrolle, zentraler sind seine ersten Berührungen mit der Arbeitswelt in Form eines Aushilfsjobs in einer Papierfabrik, in der er drei Sommer verbringt. Wie eng für ihn diese beiden neuen Erfahrungen – Comic und Arbeitswelt – jedoch zusammenhängen, zeigt Delise, wenn er innerhalb weniger Seiten seine Entdeckungen in der Comicbibliothek, die Zulassung zu einem Animationsfilmstudium in Toronto, die Schönheit der Architektur der Papierfabrik und den Schweiß und Lärm in den dortigen Hallen aufeinanderfolgen lässt. Die Fabrik eröffnet eine neue Welt für den Jugendlichen, der sich von seiner Familie, seinen Freunden und auch sich selbst entfremdet fühlt, eine Welt, in der er nicht über sein Verhältnis zu seiner Umwelt nachdenken, sondern lediglich funktionieren muss. So sind manche der Arbeitsnächte in der Fabrik geradezu als Erholung vom anstrengenden Leben in der realen Welt inszeniert, in denen ein Sozialleben mit Freunden und Familie gepflegt werden muss. Vor allem die schwierige Beziehung zu seinem Vater nimmt großen Raum im Comic ein. Die Lehrjahre von Delisle sind vielfältig und zu ihnen gehört auch die Erkenntnis einer unüberwindbaren Sprachlosigkeit mit seinem Vater, der ebenfalls in der Fabrik arbeitet, als technischer Zeichner allerdings wenig Berührung mit seinem Sohn in der Fabrikhalle hat und dort lediglich einem Gespenst gleich zwischen den riesenhaften Papierrollen auftaucht.

Wie bereits Delisles frühere Comicreportagen ist „Lehrjahre“ geprägt vom offenen, leicht naiven Blick des Zeichners, der sich auf eine neue Umgebung einlässt und versucht, sie sich über ihre Übertragung in Bilder zu erschließen. Nachdem er auf das chinesische Shenzen (2000) und das nordkoreanische Pjöngjang (2003) geblickt hat – wo er aus beruflichen Gründen jeweils für eine Weile im Auftrag westlicher Animationsfilmstudios lebte – sowie Birma (2007) und Jerusalem (2011) – wohin er seine Frau begleitete, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitet –, blickt er diesmal von der Gegenwart in die Vergangenheit, von Frankreich aus, wo er seit vielen Jahren lebt, nach Kanada.

Seite aus „Lehrjahre“ (Reprodukt)

Die Welt, die er den Leserinnen und Lesern präsentiert, mutet jedoch ebenso fremd an wie jene, die er in China oder Nordkorea vorgefunden hat. So ist es etwa eine Welt, in der Frauen nicht vorkommen, eine Welt voller Schweiß und sexistischer Witze, aber auch eine Welt, die geprägt ist von Klassensolidarität und gewerkschaftlicher Organisation. In den frühen Achtzigern zeichnen sich die Arbeitsbedingungen noch durch ein solidarisches Miteinander der Fabrikarbeiter aus, die sich ihrer Solidarität gegen ihre Vorgesetzten sicher sein können, mit denen sie kaum in Berührung kommen. „Zwei Welten. Die einen haben studiert, leiten Projekte, arbeiten oben in ruhigen Büros. Die anderen arbeiten Nachts, zwar gewerkschaftliche organisiert, aber sie ruinieren ihre Gesundheit bei dem Lärm und der Hitze, Wochenende inklusive“, fasst Delisle die Struktur in der Fabrik zusammen. Der jugendliche Guy Delisle befindet sich irgendwo zwischen diesen beiden Welten, zwar arbeitet sein Vater in einem der ruhigen Büros und mit seinem Studienfach Kunst findet er auch nicht viel Verständnis unter seinen Kollegen, doch durch seine drei Sommer mit je zwölfstündigen Nachtschichten in den stickigen, heißen Maschinenhallen wird er zunehmend als einer der ihren akzeptiert, je mehr er die Handgriffe an den Maschinen verinnerlicht.

Lehrreich ist der Comic nicht nur für seinen Protagonisten, sondern auch für die Leserinnen und Leser, die darin tatsächlich den Prozess der Papierherstellung vermittelt bekommen: Es werden verschiedene Schwerpunkte im Produktionsprozess mit sehr detailliertem Blick geschildert. Von den „lokomotivgroßen Maschinen“, in denen Holz in Zellstoff verwandelt wird, der dann gepresst, getrocknet und auf riesige Rollen gewickelt wird, über die „Nasspartie“, wo der Zellstoff für das Papier ankommt, bis zur Verpackungsabteilung: „Ein ruhiger Posten – hierher kommen die, die erschöpft sind oder kurz vor der Rente stehen.“ Man lernt mit Delisle die Handgriffe zum Beherrschen der Maschinen, die Gefahren der tonnenschweren Walzen und Rollen und die kleinen Fluchten der Arbeiter kennen, die sich zur Erholung in schalldichte Kabinen zurückziehen können, in denen die ganze Nacht der Fernseher läuft.

Vor allem aber ist „Lehrjahre“ die Dokumentation einer Welt, die man in der Gegenwart so kaum mehr vorfinden wird. Subtile Veränderungen deuten sich bereits damals an. Neben den diversen Inhabern aus England, Japan und den USA, die seit ihrer Gründung 1927 die Fabrik geprägt haben, sind es vor allem scheinbare Nebensächlichkeiten, die auf große Umwälzungen im Arbeitsleben deuten: ein Holzhaufen, der die meterhohe Mauer stets überragt hat, schrumpft von Jahr zu Jahr, „vorbei auch die Ära der Flößer, die das Holz über den Fluss beförderten“, und erste Computerprogramme werden Teil des Arbeitsalltags. Die starke und fest unter den Arbeitern verwurzelte Gewerkschaft, die Anfang der Achtziger noch die Arbeitsbedingungen aushandeln konnte, existiert nicht mehr, der immer wieder auch romantische Blick von Guy Delisle auf die Fabrikkultur würde heute wohl ernüchternder ausfallen.

Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 8/2021

Hier gibt es ein Interview mit Guy Delisle.

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.

Seite aus „Lehrjahre“ (Reprodukt)