Nichts ist so verführerisch wie die Erinnerung an eine schöne Vergangenheit. Genau das ist Hugh Jackmans Problem. In „Reminiscence — Die Erinnerung stirbt nie“ spielt er einen mentalen Ermittler, dessen neue Klienten Mae (Rebecca Ferguson) sein Leben vollends auf den Kopf stellt. Denn nicht nur verliebt er sich in sie, sie verschwindet auch spurlos. Und taucht dafür plötzlich in den Erinnerungen seiner anderen Klienten auf.
Angesichts der riesigen Menge an über ein Jahr aufgestauten Kinostarts ist „Reminiscence“ aktuell nicht unbedingt der Titel, über den jeder spricht. Aber vielleicht sollte er das sein. Es kommt immerhin nicht jeder im Line-up von Warner Bros. unter — und dazu noch mit einem Debüt. Die Regisseurin und Drehbuchautorin hinter dem Science-Fiction-Melodrama heißt Lisa Joy. Es ist gut, dass zu wissen. Denn Joy hätte den Stoff beinahe unter einem männlichen Pseudonym veröffentlicht.
Eine Frau, die über Roboter schreiben will
In einem Interview mit dem Independent verriet die Filmemacherin kürzlich, dass sie diesen Schritt in Erwägung gezogen hatte, um ihrer Idee mehr Auftrieb zu verleihen. „Letztlich habe ich mich dagegen entschieden, aber ich habe in meiner Karriere definitiv schon viele Doppelstandards und Vorurteile erlebt.“Dass Lisa Joy noch verhältnismäßig neu im Business ist, hält sie glücklicherweise nicht davon ab, von ihren Erfahrungen hinter den Kulissen zu sprechen. Von den fragwürdigen Komplimenten, die sie von Studioleuten hörte, weil sie als Frau ‚ungewöhnlicherweise‘ gut männliche Figuren schreiben könne. „Warum?“ fragte Joy im Interview. „Ist es für eine Frau so schwer, sich diese luftigen Höhen an Intelligenz und Tiefe vorzustellen?“ Schreib was du kennst, das ist ein gern zitierter Tagesordnungspunkt im Grundkurs Kreatives Schreiben. Doch in Hollywood wird er anscheinend noch häufig genutzt, um den Status quo aufrechtzuerhalten.
Die „Quotenfrau“ befreit sich
Lisa Joy hat noch mehr Bullshit-Anekdoten auf Lager. Als sie in ihrem ersten writer’s room für die Serie „Pushing Daisies“ arbeitete, nahm eine andere Juniorautorin sie zur Seite und flüsterte ihr zu: „Weißt du, du solltest in diesem Raum wirklich nicht sprechen, du bist nur wegen der Diversitätsquote hier. Und niemand will etwas von der Quotenfrau hören.“ Joy nahm die Zweifel, die diese Bemerkung auslösten, nahm die Frustration, die Wut und verwandelte sie in Produktivität, pitchte eine Idee nach der anderen. Bis es funktionierte — ihr elfter Pitch an diesem Tag wurde zu ihrem ersten, der es schließlich ins Fernsehen schaffte. „Ich dachte, ich hätte nichts zu verlieren und dieses Gefühl war befreiend.“
Lisa Joy wurde als Tochter zweier Immigranten in New Jersey geboren. Die Mutter aus Taiwan, der Vater aus Großbritannien. Ihre Karriere sollte ihr zuerst einmal Stabilität gewährleisten, und so schrieb sie sich an der Standford University für Jura ein. Zahlreiche Tagebucheinträge, Kurzgeschichten, Drehbuchentwürfe entstanden in dieser Zeit, die sie jedoch nie mit jemandem teilte. Nur ihr Ehemann bemerkte ihre Leidenschaft, ihr Talent — und er musste es wissen. Jonathan Nolan ist der Bruder von Christopher Nolan, arbeitete als Co-Autor an Filmen wie „Memento“, „The Dark Knight“ oder „Interstellar“ mit. Er schenkte Joy eine Drehbuchsoftware, mit der sie parallel zu ihrem Job in der Consultingfirma McKinsey & Company ein Script für „Pushing Daisies“ schrieb. Ein Freund reichte es an den Produzenten Bryan Fuller weiter. Doch bevor sich etwas tat, nahm Joy erst einmal ein weiterführendes Studium an der Harvard Law School auf, büffelte für ihre Anwaltszulassung. Dann der Anruf: Ein Platz im Autorenteam für „Pushing Daisies“ sei noch frei, sie dafür die perfekte Besetzung. Mit einem kleinen Haken: „Der Job beginnt morgen,“ sagte der Typ am Telefon. „Wenn du nicht da bist, kriegst du ihn nicht.“ Und Lisa Joy sprang.Das hier ist erst der Anfang
So furchteinflößend der Schritt auch war — inklusive eines wesentlich geringeren Gehalts als zuvor und mit einem abzuzahlenden Studienkredit im Nacken —, Jahre später kann Joy ohne zu zögern sagen, dass er sich gelohnt hat. Nach „Pushing Daisies“ schaffte sie es als einzige Frau ins Autorenteam der Actionserie „Burn Notice“ und nutzte den Job, um an ihrer Stimme zu arbeiten. „Ich fühlte mich gerade deswegen zu ‚Burn Notice‘ hingezogen, weil es so machomäßig war“, erklärte sie vor einigen Jahren in einem Gastbeitrag für die Cosmopolitan. „Ich wollte es wagen eine Serie zu schreiben, die die Leute mit männlichen Stimmen und maskuliner Action assoziieren — um zu zeigen, dass so eine Show nicht nur die Domäne männlicher Autoren sein muss.“
Dann folgte das erste große Prestigeprojekt: Gemeinsam mit ihrem Mann schrieb und produzierte Joy die Serie „Westworld“, von Publikum und Kritik gleichermaßen geliebt für ihr ambitioniertes, intelligentes Storytelling, die erstaunlichen Spezialeffekte, die komplexen Figuren, den durchdachten Umgang mit dem Original. Während der Arbeit an der Serie inszenierte Lisa Joy nicht nur ihre erste eigene Episode, sie nahm gleich noch ein zweites Großprojekt in Arbeit: „Als Autorin sagen dir viele gutmeinende Leute, dass du nicht gleichzeitig Mutter sein kannst. Aber ich wollte ein Baby.“ Also bekam sie eins — und entwickelte gleichzeitig ihren ersten eigenen Spielfilm: „In dieser Zeit, in der ich allein herumsaß und mich in einen Eimer übergab, entwickelte ich meinen ersten Spielfilm namens ‚Reminiscence‘.“ Und da sind wir nun.„Reminiscence“ ist alles andere als ein typisches Debüt: Eine Studioproduktion mit großen Darstellern, ein Originaldrehbuch ohne ein erfolgreiches Franchise im Nacken, dazu ein actionreicher Science-Fiction-Stoff, der in einem halb untergegangenen und von Kriegen verwüsteten Miami spielt und geflutete Sets verlangt, aufwändige Unterwasserszenen. Joy sagt, sie hätte den Film ohne ihre Erfahrungen mit „Westworld“ so nicht machen können: „Durch ‚Westworld‘ habe ich gelernt, immersive Welten innerhalb eines Zeit- und Budgetrahmens zu erschaffen.“ Möglich. Aber wir haben den Eindruck, Lisa Joy schafft, was auch immer sie anpackt. Die Zukunft sieht vielversprechend aus. Derzeit schreibt und produziert sie gemeinsam mit Nolan „Fallout“, eine SF-Serie für Amazon, basierend auf der gleichnamigen erfolgreichen Videospielreihe. Wir werden da sein und uns nichts entgehen lassen.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 17.09.2021 auf: kino-zeit.de
Katrin Doerksen, Jahrgang 1991, hat Filmwissenschaft nebst Ethnologie und Afrikastudien in Mainz und Berlin studiert. Neben redaktioneller Arbeit für Deutschlandfunk Kultur und Kino-Zeit.de schreibt sie über Comics, aber auch über Film, Fotografie und Kriminalliteratur. Texte erscheinen unter anderem im Perlentaucher, im Tagesspiegel oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie lebt in Berlin.