Konstruktivismus am Endpunkt

Agent Cole Turner, FBI-Ausbilder und Dozent, forscht gerne. In Internetforen und anderen Zusammenkünften diverser Trolle fahndet er nach absurden Verschwörungstheorien, um die Verantwortlichen auszumachen. In gleicher Mission besucht er die jährliche Konferenz der Flat-Earth-Jünger – jener Fraktion, die davon überzeugt ist, die Erde sei flach. Aber der Event gestaltet sich gänzlich anders als geplant: Die beiden Organisatoren, texanische Ölmagnaten, die seit Jahren rechte Politiker unterstützen, überreden Cole zu einem Flug im Privatjet, und der traut seinen Augen kaum, als man tatsächlich am Ende der flachen Erdscheibe Mauern aus Eis antrifft, die die Welt begrenzen. Plötzlich wird die ganze Reisegruppe von einer rabiaten Dame erschossen, die ihn mitnimmt in den Keller der Kongressbibliothek in Washington. Dort wird ihm beim Verhör eröffnet, dass er soeben eine „Tulpa“-Manifestation erblickt habe: Je mehr Wirrköpfe fest an eine Verschwörung glauben, desto mehr schleicht sich diese als „alternative Wahrheit“ in die Realität ein – und das muss um jeden Preis verhindert werden.

Dafür sorgt die Organisation, die Cole als „Department of Truth“ vorgestellt wird: Unter Führung von Lee Harvey Oswald überwacht diese geheime Abteilung Fälle, in denen sich Verschwörungstheorien in die reale Welt schleichen und schreitet durchaus rabiat dagegen ein. Federführend dabei ist die Agentin Ruby, an deren Seite Cole fortan mit immer neuen Aufträgen konfrontiert wird.

Ein geniales Konzept! James Tynion IV entführt uns bereits mit „Something Is Killing The Children“ in eine albtraumhafte Welt, in der Monster existieren, die nur von Kindern und Auserwählten gesehen werden. Für diese neue Serie entwickelt er nun die verstörende Idee, dass Verschwörungstheorien noch gefährlicher sind, als ohnehin schon zu befürchten: Getreu dem Motto, dass der Glauben die Realität schafft (was als These nicht nur im Buddhismus, sondern in zahlreichen philosophischen Richtungen durchaus gängig ist), können Wirrköpfe ihre Theorien faktisch entstehen lassen, wenn sie nur genügend Gläubige auf ihre Seite ziehen.

Bild aus „The Department of Truth“ (Splitter Verlag)

Das reicht von der Flacherde-Mythologie (sämtliche Regierungen, Fluggesellschaften und Wissenschaftler sind natürlich eingeweiht, sonst klappt das nicht) über die „Satanic Panic“-Tendenzen, die bis heute in den „Deep State“- und QAnon-Märchen über kindermordende geheime Herrscherkaste auftauchen, bis hin zu den perfiden „Krisendarsteller“-Narrativen, die allen Ernstes behaupten, Berichte über Amokläufe an Schulen seien lediglich inszeniert, um den bösen Linken ein Argument gegen die Waffenlobby zu liefern (diese Episode, in der die Mutter eines von einem Amokläufer ermordeten Kindes selbst diesem Wahn anheimfällt, ist überaus beklemmend).

Eine raffiniertere Art, den Irrsinn und die Gefahren der neuen wie altbekannten Verschwörungserzählungen bloßzustellen, ist kaum denkbar, wobei Tynion auch eine schlüssige Erklärung für die Popularität dieser Theorien liefert: Sie geben den gefühlt Machtlosen vermeintliche Macht und das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, da man „die Dinge durchschaut“ und damit einem exklusiven Kreis angehört. Dass Tynion dabei natürlich selbst ein wenig in die Kerbe der geheimen Unterabteilungen des FBI schlägt, geht vollkommen in Ordnung. Die „Men in Black“ werden ebenso oft direkt zitiert, wie das Kellergewölbe und das Gespann Cole/Ruby natürlich eine Referenz auf die Mutter aller Conspiracy-Mythen, den „X-Files“, ist – bei denen es sich allerdings immer um eine intellektuelle Fingerübung handelt, die eine gesunde Portion Misstrauen empfiehlt, anstatt die Herrschaft der Reptiloiden zu propagieren.

Und dass die Bezeichnung der Spezialeinheit an George Orwells Ministerium der Wahrheit angelehnt ist, mag auch nicht unbedingt nur Gutes verheißen. Martin Simmonds fährt in seiner Gestaltung die ganz große Geisterbahn ab, stilisiert, verzerrt, expressiv, oft collagenhaft und immer nah am Großmeister dieser Spielart, Dave McKean. Ein High-Concept-Werk also, das man nur schwerlich aus der Hand legen kann, zu faszinierend, verstörend und entlarvend ist diese leider nur allzu relevante Geschichte. Der vorliegende Band versammelt die ersten fünf Ausgaben der Serie „Department of Truth“, die im Original 2021 erschienen, ergänzt um eine Covergalerie. Band 2 erscheint im Oktober.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

James Tynion IV (Autor), Martin Simmonds (Zeichner): „The Department of Truth. Buch 1: Das Ende der Welt“. Aus dem Englischen von Katrin Aust. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 144 Seiten. 22 Euro