Kita im Untergrund

Zwanzig Jahre später: Während Paul, der früher Pavel hieß, noch immer in seinem kleinen Tattoo-Studio arbeitet, wurde aus Azami, seiner Ziehtochter, eine junge Frau. Und was für eine. Sie betreibt leidenschaftlich Bodybuilding und hat als Lieutenant bei der New Yorker Polizei den passenden Job gefunden. Nur eine Sache treibt sie um: Sie kann keine Kinder kriegen. Bei einem Einsatz findet sie ein Baby, das in einer Seitengasse abgelegt wurde. Wider alle Logik und trotz massiver Einwände von Paul behält sie das Kind. Was eine Reihe von fatalen Ereignissen auslösen wird. Gleichzeitig wird Paul einmal mehr von den Geistern seiner Vergangenheit im Gulag heimgesucht, die sich zudem als allzu lebendig erweisen. Und Azami muss um das Baby kämpfen, an dem ein angeblicher Drogenhändler und eine geheime Regierungsbehörde aus verschiedenen Gründen reges Interesse zeigen.

Jerome Charyn (Szenarist), Francois Boucq (Zeichner): „New York Cannibals“.
Splitter Verlag, Bielefeld 2021. 152 Seiten. 35 Euro

Vor nunmehr über sechs Jahren trafen wir Paul und Azami zum ersten Mal. In „Little Tulip“ schilderten François Boucq und Jerome Charyn die erbarmungslose Kindheit von Paul/Pavel im russischen Gulag im äußersten Osten Russlands. Parallel dazu zeigten sie ihn – die Gegenwart spielte im Jahr 1970 in New York – als fähigen Tätowierer und Phantombildzeichner für die Polizei, mit einer Art zweitem Gesicht. Und wie ihn erstmals seine Vergangenheit schmerzhaft einholte. Es ist für die Lektüre dieses Fortsetzungs-Bandes nicht zwingend notwendig, aber dennoch höchst empfehlenswert, die Story von „Little Tulip“ zu kennen und damit die Vorgeschichte Pauls, seine harte Zeit im Straflager und „Werdegang“ als Tätowierer und Kämpfer.

„New York Cannibals“ spielt nun im Jahr 1990. Für Paul ist alles beim alten. Er betreibt sein Studio und kümmert sich noch immer um Azami, für die er längst zur Vaterfigur geworden ist. Da brechen erneut die Dämme zu seiner Vergangenheit auf, wieder begegnet er Personen aus dem Gulag, an die er denkbar schlechte oder zumindest gemischte Erinnerungen hat (offenbar scheint es im Kalten Krieg kein Problem für dubiose Russen gewesen zu sein, in die USA zu emigrieren, man trifft sich in New York). Er sieht sich gezwungen, zum Wohle Azamis einen gefährlichen Handel einzugehen, bei dem das Findelkind als Druckmittel dient. Charyn und Boucq zeigen ihr New York voller Halbweltgestalten und korrupten Behörden, die skrupellose Geschäfte machen. Die Stadt ist keine schillernde Metropole, sondern dreckig (siehe auch „Teufelsmaul“), bestenfalls schmuddelig, so verkommen wie die Moral der meisten Antagonisten Pauls. Viele Szenen spielen im Untergrund, in den Katakomben der Stadt.

Pauls ans Übernatürliche angelehnte Gabe kommt in diesem Band nicht zur Sprache – für den für die Werke von Charyn und Boucq typischen Touch Fantasy („Die Frau des Magiers“) sorgt diesmal Mama Paradise, die Mutter Teresa des Untergrunds und eine der skurrilen Nebencharaktere (neben dem beinlosen Informanten Albatros oder dem Drogen- und Menschenhändler Quinto). Der massive Showdown ist dann inhaltlich wie erwartet, etwas dick aufgetragen, optisch aber ganz anders und höchst originell und stellt einen eleganten zeichnerischen Höhepunkt dar, der einmal mehr François Boucqs (u. a. „Bouncer“, „Superdupont“) Können unter Beweis stellt. Und es kann sehr gut sein, dass wir Paul und Azami noch ein weiteres Mal erleben werden. Dann bitte nicht erst in sechs Jahren.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „New York Cannibals“ (Splitter Verlag)