Ein anarchistischer Privatdetektiv

„Ich habe lange überlegt“, so Léo Malet in einem Interview zur Entstehung seiner bekanntesten literarischen Figur Nestor Burma: „Sollte ich einen Polizisten erfinden? Es gab schon Maigret. Einen Journalisten? Es gab schon Rouletabille. Einen Banditen? Es gab schon Arsène Lupin. Und so bin ich auf einen Privatdetektiv gekommen. Eine Figur am Rande der Gesellschaft, und das entspricht ja auch meinem Charakter.“

In der Tat hat sich der 1909 in Montpellier geborene Malet meist an den gesellschaftlichen Rändern aufgehalten, als 16-jähriger strandete er völlig abgebrannt in Paris, wurde Anarchist, lebte mit Vagabunden auf der Straße, verdiente Geld als Chansonnier und avancierte schließlich in den späten 20er Jahren zum surrealistischen Autor, er zählte André Breton und Salvador Dalí zu seinen Freunden.

Léo Malet, Jacques Tardi: Burma Gesamtausgabe“.
Aus dem Französischen von Martin Budde, Kai Wilksen, Wolfgang Bortlik. Edition Moderne, Zürich 2021. 408 Seiten. 39 Euro

Der Lyriker Jacques Prévert war Trauzeuge, als er 1940 Paulette Doucet heiratete. Inmitten des Zweiten Weltkriegs, unter deutscher Besatzung, entwickelte Malet seinen Detektiv Burma, der wie sein Erfinder aus Montpellier nach Paris gekommen war und in anarchistischen Kreisen verkehrte. In mehr als 30 Bänden ermittelte Burma schließlich zwischen 1943 und 1983, er wurde zur Filmfigur, sein Autor mit zahlreichen Literaturpreisen geehrt. Am Anfang der Reihe stand wiederum eine autobiografische Erfahrung: „120, Rue de la Gare“ beginnt in einem sogenannten Stalag, einem deutschen Kriegsgefangenenlager, in dem Burma interniert ist, ebenso wie kurz zuvor der Autor Malet selbst. „Ich schrieb ‚120, Rue de la Gare‘ in der Atmosphäre der Besatzung, die etwas Besonderes war“, erinnerte er sich in seiner Autobiografie „Stoff für viele Leben“ an diese Zeit, insbesondere an die Geräusche, die zur bedrohlichen Stimmung unter der Besatzung beitrugen: „jemand, der verstohlen nach Hause schleicht, ein Auto der deutschen Armee, das mit quietschenden Reifen vorbeirast, usw.“

Diese düstere und bedrohliche Atmosphäre ist es auch, die den großen Reiz der Comicadaptionen der Burma-Krimis durch Jacques Tardi ausmacht, die nun anlässlich des 40. Geburtstags des Schweizer Comicverlages Edition Moderne in einem Sammelband erschienen sind. Vier literarische Vorlagen Malets hat Tardi zwischen 1982 und 2000 umgesetzt, obwohl der Autor kein Freund von Comics war: „Die neunte Kunst hat mich nie begeistert! Ich muss sogar zugeben, dass ich mehr oder weniger dagegen bin“, schreibt Malet im Vorwort zur Comicversion von „Die Brücke im Nebel“, worin Burma von seiner Vergangenheit im anarchistischen Milieu eingeholt wird. Die einzige Ausnahme in der Welt der neunten Kunst war für Malet der Zeichner Tardi: „Niemand anderes als Tardi kann es so präzise wiedergeben, niemand anderes als er kann diese Feuchtigkeit und Zähflüssigkeit mit einem solchen Nimbus umgeben, kann diese latente Depressivität aufkommen lassen.“

Es ist wirklich beeindruckend, wie Tardi etwa in „120, Rue de la Gare“ die verschiedenen Handlungsorte zum Leben erweckt: das Stalag irgendwo zwischen Hamburg und Bremen sowie die Städte Lyon und Paris. Tardi nutzte historische Fotos, um seine detailreichen, realistischen Hintergründe zu entwerfen, vor denen die Personen agieren, die weniger realistisch als vielmehr karikiert gezeichnet sind. Aus diesem Kontrast ergibt sich jene Spannung, die auch den Film Noir auszeichnete, eine schwarz-weiße Welt voller Nebel, Licht und Schatten, dunkler Gassen und schmutziger Fassaden, dies alles vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung.

So ist die Krimihandlung um den Juwelendieb Eiffelturm-Jo nur eine Facette von „120, Rue de la Gare“, viel zentraler ist die Gesellschaftsstudie, die Tardi und Malet darüber hinaus abliefern. Sie zeigen die gesellschaftliche Stimmung im besetzten Frankreich zwischen Resignation und Abwehr, Plakate bilden die Alltagskultur ab sowie die antisemitischen Propagandamaßnahmen der Deutschen. Der Tod ist stets präsent, im Kleinen wie im Großen, Verlass ist auf fast niemanden. Korrupte Polizisten, Verräter und Kriminelle, die Randfiguren eben, für die sich Malet interessierte, prägen das Bild. Jeder ist verdächtig, und so spiegelt sich die düstere Story auch in der Perspektive der Zeichnungen, die ein Paris zeigen, in dem der Eiffelturm nur im Namen des Juwelendiebs auftaucht, nicht jedoch als Bauwerk. Es ist ein Paris der Halbwelt, was sich auch in den textlastigen Dialogen wiederfindet.

Die anderen Adaptionen in dem Sammelband – „Die Brücke im Nebel“, „Wie steht mir Tod?“, „Kein Ticket für den Tod“ – sind in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt. Aber abgesehen von den verschwundenen deutschen Uniformen, Hakenkreuzfahnen und Propagandaplakaten ist die Stimmung eine ähnliche. Tardi und Malet erweisen sich als Chronisten der verborgenen Seiten von Paris, die schleichende gesellschaftliche Entwicklungen ebenso in ihr Werk aufnehmen wie die bleierne Schwere des ewig Gleichen, des Nebels, des Verrats, der Verbrechen.

Dieser Text erschien zuerst am 22.10.2021 in: ND

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.

Seite aus „120, Rue de la Gare“ der „Burma Gesamtausgae“ (Edition Moderne)