Bonjour Tristesse – Olivier Schrauwens Graphic Novel „Sonntag“

Was gibt es über einen vertrödelten Sonntag zu erzählen? Ziemlich viel, hat Comiczeichner Olivier Schrauwen gerade bewiesen. Auf knapp 500 Seiten erzählt er von einem Sonntag seines Cousins Thibault. Viel passiert nicht an dem Tag – trotzdem ist dieser Comic ungeheuer spannend.

Der Tag beginnt mit einem Blick aufs Handy – es ist 8:17 Uhr. Mails checken oder nicht ist der erste Gedanke von Thibauld. Vielleicht hat Migali geschrieben, seine Freundin, die allein nach Afrika gereist ist und heute zurückkommen soll. Im Vorwort schreibt Olivier Schrauwen, dass er im Comic „Sonntag“ einen Tag seines Cousins Thibault dokumentiert, den dieser als verschwendet empfindet, weil solche Tage voller Zaudern und Ziellosigkeit seien.

Schon bei Thibaults erstem Kaffee wird klar, es geht auch ums Prokrastinieren. Thibault ist Schriftgestalter, und ein Kunde bittet ihn in einer Mail eindringlich darum, die vereinbarte Schrift zu liefern oder sich wenigstens zu melden. Thibault schafft weder das eine noch das andere und schimpft stattdessen auf seinen Auftraggeber, würdigt den herab. Genauso wenig gelingt es ihm, sich einfach mal schnell bei Magali zu melden, um ihre Ankunftszeit zu erfahren.

Das ist spannend, weil Olivier Schrauwen Muster freilegt, die vermutlich jeder kennt: Es sind Kleinigkeiten, die vom Ziel ablenken. Die Angst, dass Magali ihre Ankunftszeit schon mehrfach gesagt haben könnte, hält Thibault zum Beispiel eine gefühlte Ewigkeit ab, ihr eine Nachricht zu schicken. Und dann lässt er sich auch noch von den Tagträumen an eine Jugendliebe treiben, steigert sich so sehr da rein, dass Zweifel an seiner aktuellen Beziehung aufkommen.

Spannend ist der Comic auch, weil Olivier Schrauwen darin zeigt, wie sehr das, was uns durch den Kopf geht, kulturell geprägt ist. Da ist der Ohrwurm „Get Up Sex Machine“ von James Brown, der Thibault den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gehen wird. Und die peinlichen Erinnerungen an seinen Cousin Rik, die Thibauld beim Anzünden der ersten Zigarette nach einer gewissen Abstinenz durch den Kopf schießen, werden in seinen Gedanken sofort mit Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ verknüpft. Da war es der Genuss eines Madelaines, der einen Erinnerungsstrom auslöst.

Mit „Sonntag“ legt Olivier Schrauwen einen Gedankenstrom vor, bei dem die Bilder, die er dazu zeichnet, die Gedanken weitertreiben, konterkarieren oder abschweifen lassen. Manchmal zeigen die Bilder deutlich tiefere Abgründe, als es die Gedanken nahelegen. Manchmal ist es andersherum. Doch selbst wenn Schrauwen unappetitliche Details einer aus dem Ruder laufenden Party zeichnet, sehen die Bilder immer irgendwie gepflegt aus. Das liegt an dem bürgerlichen Personal und Interieur, dessen kultivierte Oberfläche Olivier Schrauwen treffsicher nachzeichnet. Unterstützt wird dieser Eindruck auch durch die zarten Pastelltöne des Risoprints – ein umweltfreundliches Druckverfahren, das vor allem für künstlerische Grafiken und Bücher mit kleinen Auflagen verwendet wird und eine ganz eigene, zarte Ästhetik hat. Meisterhaft ist auch Schrauwens Figurenzeichnung, die auf den ersten Blick klarmacht, wie Thibauld sich gerade fühlt.

Die einzelnen Erzählebenen montiert Schrauwen so kunstvoll, dass am Ende die vielen Figuren aus seinem Leben und die wenigen losen Handlungsstränge zusammenlaufen. Der nervige Cousin ist mit der angebetenen Nora unterwegs, und die beiden steuern ausgerechnet eine Kneipe in Thibaults Kiez an, wo sie mit einem Schulfreund von Thibault ins Gespräch kommen. Seine Freundin wird ihr Flugzeug erwischen und sich in der Kneipe dazugesellen. Ausgerechnet das Ende dieses zerfaserten Sonntags läuft auf einen dramaturgischen Höhepunkt zu – das ist meisterhaft inszeniert.

Und ganz nebenbei erzählt Olivier Schrauwen mit Thibaults Bewusstseinsstrom auch, wie sehr Menschen von den erzählerischen Traditionen ihrer Kultur geprägt sind. Wie groß die Kluft zwischen äußeren und inneren Ansprüchen und der Realität sein kann – und mit welchen Strategien die überbrückt wird. Damit wird der Comic auch zu einem Diskurs über Menschlichkeit. Vielschichtiger und spannender kann man von einem belanglosen Sonntag kaum erzählen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 03.04.2025 auf: radio3 rbb

Olivier Schrauwen: Sonntag • Aus dem Französischen von Christoph Schuler • Edition Moderne, Zürich 2025 • Softcover • 472 Seiten • 45 Euro

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.