Dieser Beitrag ist ein Repost vom 30.05.2018. Er ist Teil von Jonas Engelmanns druckfrisch erschienener Textsammlung „Dahinter. Dazwischen. Daneben. Von kulturellen Außenseitern und Sonderlingen“ (Ventil Verlag), zu deren Kauf wir dringend raten möchten. Sie wird spitze unterm Tannenbaum aussehen. Hier stand Engelmann dem Deutschlandfunk Rede und Antwort.
„Meine Liebe, das Leben ist kurz und trist. Amüsieren wir uns“, sagt der Muminvater zu seiner Frau, packt ein Bündel und zieht mit ihr in eine „Höhle für Schmuggler und entflohene Sträflinge“ am Meer. Er lässt Haus und Kind zurück und hofft, auf diese Weise der gefühlten Tristesse seines Lebens zu entkommen und endlich Abenteuer zu erleben. „Keine Sorge, es tut ihm gut, mal auf sich gestellt zu sein“, beruhigt er seine Frau, die sich um das Wohl ihres Kindes Mumin sorgt. Erst kurz zuvor hatten sich die drei nach vielen Jahren der Trennung zufällig wiedergefunden, in buchstäblich allerletzter Sekunde, bevor Mumin in seiner Einsamkeit Selbstmord begehen konnte. „Ach, ich gehe wohl besser ins Wasser… Ein Jammer, dass ich so gut schwimmen kann… Wenn alle anderen Väter, Mütter und Frauen haben, will ich lieber sterben, als allein zu sein…“, hatte Mumin verkündet und damit das Bild widerlegt, das die meisten von den Geschichten um die nilpferdähnlichen Mumintrolle und ihre Freunde haben dürften: die Vorstellung einer leicht surrealen, aber heilen Welt und Familie, in der kleine Abenteuer den Alltag aufregend erscheinen lassen.
Tatsächlich aber sind die Comics und auch die Kinderbücher der finnischen Zeichnerin und Autorin Tove Jansson durchzogen von Melancholie, Ängsten und der Bedrohung der Mumins durch ihre Umwelt. Bereits in den dreißiger Jahren hatte Jansson die Idee zu ihrem Muminkosmos, einer von Trollen, Snorks, Hemulen, Huscheltieren und anderen Fabelwesen bevölkerten Lebenswelt, in der die menschliche Zivilisation nur ab und an in Form von Autos, Strandurlauben oder Polizisten auftritt, aber nie die Oberhand gewinnt. Auch wenn die Mumins, ebenso wie die mit ihnen verwandten Snorks, äußerlich an Nilpferde erinnern, täuscht diese Parallele. „Kraft meines akademischen Rangs erkläre ich, dass die Mumins nicht im Entferntesten mit Flusspferden verwandt sind“, verliest ein Zoologe in der Comic-Episode „Ein Urwald im Mumintal“ sein Forschungsergebnis.In den frühen Vierzigern schrieb Jansson das erste von neun Kinderbüchern aus dem Kosmos der Mumins, „Mumins lange Reise“, in dem die verstreute Muminfamilie von Naturkatastrophen bedroht wird und ähnlich wie in der erwähnten Comic-Episode zunächst wieder zusammenfinden muss. Die bedrohliche weltpolitische Situation mag sich in der thematisierten Unruhe und der Verlustangst widerspiegeln – Jansson beschäftigte sich damals als politische Karikaturistin auch beruflich mit den Entwicklungen in Nazideutschland –, ebenso wie die Suche ihrer Eltern Signe Hammarsten und Viktor Jansson, die beide ebenfalls als Künstler arbeiteten, nach Auswegen aus bürgerlichen Lebensentwürfen. Wenn auch unterschieden werden muss zwischen den Kinderbüchern, die zwischen 1945 und 1970 erschienen sind, und den ab 1954 im Auftrag der britischen Zeitung The Evening News entstandenen Mumin-Comics, die sich explizit an Erwachsene richteten, so lassen sich doch ähnliche Motive finden. Den jungen Lesern der Kinderbücher wurde zugetraut, sich mit „Erwachsenenthemen“ wie Krankheit, Tod oder Weltuntergangsphantasien auseinanderzusetzen, während die Comic-Leser die oft kindliche und naive Sicht der Mumins auf die Welt akzeptieren mussten.
Alle Bücher Janssons sind durchzogen von der melancholischen Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach Abenteuern, und gleichzeitig der Angst vor dem Verlust von Sicherheiten: Immer wieder werden die Mumins von Kometen, Überschwemmungen und Stürmen bedroht. Die Sicherheit im Zusammenhalt der Familie und die Sehnsucht nach etwas anderem sind bei den Mumins kein Widerspruch, sondern vielmehr ihr Grundantrieb. Die Mumins unterstützen sich in ihren Ängsten und Sehnsüchten, gewähren sich große Freiheiten und halten dennoch zusammen. Das Mumintal scheint von der Fähigkeit zusammengehalten zu werden, Widersprüche auszuhalten. Die Mumins sind einerseits friedliebend und töten doch ein Wildschwein, um es zu essen; sie sind technikskeptisch und fliegen doch mit dem Hubschrauber zum Picknick auf die einsame Insel.
„Die Muminfamilie, die ich zu beschreiben versuche, ist schlichtweg glücklich, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie haben es gemütlich miteinander, und sie gewähren sich gegenseitig volle Freiheit: Freiheit, allein zu sein, die Freiheit, auf eigene Art zu denken und zu fühlen und eigene Geheimnisse zu haben, bis zu dem Moment, wo sie bereit sind, sie zu teilen. Keiner verursacht je einem anderen ein schlechtes Gewissen“, sagte Jansson über die Mumins. Selbst Beziehungen sind geprägt von einer gewissen Freiheit: Die durchaus erotisch angelegte Liebe zwischen dem kindlich-jugendlichen Mumin und dem Snorkfräulein wird immer wieder strapaziert von Liebeleien beider mit anderen Figuren aus dem Muminkosmos – ihre Beziehung zueinander wird dadurch jedoch nicht in Frage gestellt. Und auch die Familie ist bei den Mumins kein starres Gefüge, sondern ein stets wandelbares Konstrukt, das es zulässt, neue Mitglieder in die Familie aufzunehmen, ohne dass dies problematisiert werden müsste; so adoptieren die Mumineltern spontan Schnüferl, ein nagetierartiges, egoistisches Wesen, das in der Buchreihe nach vier Bänden plötzlich verschwindet. Diese Offenheit birgt allerdings auch die Gefahr, dass die „depperte Gastfreundschaft“ der Mumins – wie der mürrische Grümlar sie bezeichnet, der sich gleich für einen ganzen Winter bei der Familie einnistet – immer wieder ausgenutzt wird. Doch auch dies kann der offenen Struktur der Muminfamilie nichts anhaben, alle werden integriert, der Polizist wie auch der Gangster Stinky, die geisterhaften Ahnen, die unsympathische Tante Jane, Piraten, Schussel, Botaniker und Zoologen. Wenn auch meist nicht explizit, bearbeiten die Comics verschiedenste Themen von Geschlechterbildern über Homosexualität und Körpernormen bis hin zu Umweltzerstörung und Alkoholismus.All dies ist erstaunlich genug für einen Comic und eine Kinderbuchreihe, die in den fünfziger Jahren ihren Höhepunkt erlebten. Gezeichnet wurden sie zudem von einer Frau, was ungewöhnlich ist für die Comicszene dieser Zeit, die offen mit ihrer Lebensgefährtin, der Grafikerin Tuulikki Pietilä, zusammenlebte. Das Rebellische, das Tove Janssons Leben und das der Mumins verbindet, findet sich in den Comics immer wieder ironisch angesprochen: „Wogegen sollen wir denn rebellieren? Die Polizei?“ „Nein, der Inspektor ist ein Freund von mir.“ „Oder gegen die Unterwelt?“ „Nö. Stinky ist auch mein Freund. Gründen wir einfach einen Club der Rebellen. Das wichtigste ist doch die Geselligkeit.“ „Und die Clubkrawatte.“ „Clubleben im Mumintal“ heißt die Episode, aus der dieser Dialog zwischen dem Muminvater und einem Freund stammt, und diese zeigt den anarchischen Spaß der Autorin, ihre Figuren abstrusen Situationen auszusetzen und ihnen dabei zuzusehen, wie sie Diebesgut (in diesem Fall eine Kuh) im Keller verstecken, den Inspektor ausrauben oder sich gegenseitig mit Zwillen beschießen.
Tove Jansson selber zeichnete nur die ersten 21 Episoden ihrer Mumincomics und übergab die Reihe bereits 1959 an ihren Bruder Lars, der sie bis 1975 weiterführte und dessen Tochter Sophia Jansson heute die Firma Moomins Characters leitet. Die Erfinderin hatte irgendwann genug vom Erfolg ihrer Figuren, die nicht nur in Büchern und Comics, sondern auch in Zeichentrickserien und Theaterstücken, auf Kaffeetassen und T-Shirts sowie als Stofftiere Verbreitung fanden, und konzentrierte sich auf die Malerei und auf Romane, die nichts mit den Fabelwesen zu tun hatten, sondern oftmals autobiographisch geprägt waren. In ihrem letzten Buch über die Mumins, „Herbst im Mumintal“ von 1970, sind die Mumins von Beginn an verschwunden, ihr Haus ist verlassen, die Freunde, die sie besuchen kommen, wissen nichts über ihren Verbleib und warten vergebens auf ihre Rückkehr. Ein mysteriöses Ende der vermutlich erfolgreichsten finnischen Buchreihe aller Zeiten.Auch die von Tove Jansson gezeichneten Comic-Episoden enden mysteriös. „Ich bin schusslig und dusslig, voller Komplexe, von Hemmungen und Verklemmungen ganz zu schweigen!“, ruft Dussel, der keinen Erfolg bei seiner Angebeteten hat, in dieser finalen Episode „Dussel auf der Balz“, in der sich das halbe Mumintal von Psychiater Dr. Schrünkel behandeln lässt, der selbst unter diversen Komplexen, Hemmungen und Verklemmungen leidet. Am Ende der Geschichte ist Mumin wegen eines Medikaments geschrumpft und Snorkfräulein begießt ihn im letzten Panel mit einem vermeintlichen Gegenmittel und sagt flehend: „Oje, ich hoffe, er wird wieder ganz der Alte!“ Wie er dies wird, bleibt der Phantasie der Leser überlassen, in der nächsten, von Lars Jansson gezeichneten Episode ist er jedenfalls wieder zu Normalgröße herangereift.
Die Comicstrip-Reihe begann schon ungewöhnlich: Mumin ist genervt vom Besuch, der sich bei ihm einquartiert hat, und zieht mit Schnüferl in die Welt hinaus. Unterwegs wird Mumin – nicht das einzige Mal in der Serie – verhaftet und von Schnüferl aus dem Gefängnis befreit, sie werden fast verprügelt, verwüsten einen Zoo, werden expressionistische Künstler und Mumin verliebt sich in Snorkfräulein. Während die Handlung noch sprunghaft voranschreitet, man der Zeichnerin anmerkt, dass sie von Idee zu Idee hechtet, um die täglichen Zeitungsstrips zu füllen und sie noch auf der Suche nach einer für sie geeigneten Form ist – immerhin debütierte sie 1954 als Comic-Zeichnerin –, scheint sie diese Form bereits mit der zweiten Episode, jener, die mit dem angedrohten Selbstmord Mumins beginnt, gefunden zu haben.
Alle von Tove Jansson gezeichneten Strips liegen mittlerweile in edler Aufmachung auf Deutsch vor und laden dazu ein, sich durch den absurden und komplexen Kosmos des Mumintals führen zu lassen. Um es mit den Worten des Gangsters Stinky zu sagen: „Ihr Mumins seid zwar die größten Knallköpfe, die ich kenne, aber wenigstens versteht ihr es, zu leben!!“
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 35/2014
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.