Wer ist Lucky Luke?

Heute, am 1. Dezember, wäre „Lucky Luke“-Zeichner Morris 100 Jahre alt geworden. Über sein künstlerisches Erbe schreibt Comic.de-Autor Georg Seeßlen in seinem neuen Buch „Lucky Luke. Fast alles über den (nicht gar so) einsamen Cowboy und seinen Wilden Westen“. Wir präsentieren einen Auszug mit freundlicher Genehmigung des Bertz+Fischer Verlags.

Lucky Luke ist natürlich, wie alle Helden, eine zusammengesetzte Figur. Die Frage ist also eher: Wer und was steckt (und versteckt sich) in Lucky Luke? Natürlich zuerst die großen Westernstars des amerikanischen Kinos: „In Lucky Luke gibt es einiges von Tom Mix aus der Stummfilmzeit, von John Wayne, etwas von James Stewart und von all diesen eher wortkargen Cowboys. Aber der Schauspieler, der mich am meisten beeinflusste, war sicherlich Gary Cooper, vor allem dadurch, dass er sehr wenig sprach und im Wesentlichen mit ‚Yep‘ antwortete“ (Morris). Den Charme des „Yep“-Antwortens übernimmt übrigens in „O.K. Corral“ Jolly Jumper im Dialog mit einer verliebten Stute (komplett mit rosa Blümchen hinterm Ohr). Noch breiter stellen Cuno Affolter und Urs Hangarter die Galerie der Vor-Bilder auf: „Lucky Luke vereinigt in sich Qualitäten einer ganzen Reihe von Leinwand-Prominenz. Namentlich zu nennen sind Audie Murphys Jugendlichkeit, das Phlegma eines Randolph Scott, die Schlauheit von Douglas Fairbanks, Glenn Fords Humor, die Stärke von John Wayne oder die Nonchalance von Gary Cooper. Auch ein William Hart hat einen Qualitätsanteil am synthetischen Charakter von Lucky Luke, während schon festgehalten wurde, dass unser Held das Pferd von Tom Mix besitzt. Letztlich, in der stets wiederkehrenden, gleichen Schlusseinstellung, reitet Lucky Luke als ‚poor lone­some cowboy‘ akkurat nach dem Vorbild der beiden singenden Westerndarsteller Gene Autry und Roy Rogers der Sonne entgegen.“ Was das Auftreten und Verschwinden des Helden anbelangt, darf man vermutlich noch an Alan Ladd in „Shane“ (1953; R: George Stevens) denken.

Lucky Luke ist jedenfalls einer dieser Kerle, deren Aufgabe es ist, eine Welt gegen ihre äußeren und inneren Feinde zu verteidigen. Er muss die Balance einer mehr oder weniger paradiesischen Ordnung bewahren und wie einst der „Lone Ranger“ immer und immer wieder unter Beweis stellen, dass die Moral sich sowohl gegen die wilde Vergangenheit (die „barbarische“ Natur und die „Indianer“, die Gesetzlosigkeit und das Land ohne Besitz) als auch gegen die „perverse“ Zukunft (der Technologie, des Kapitalismus, der Moderne, der Besitzansprüche) durchsetzen lässt. Jedenfalls immer wieder für eine Episode lang. Lucky Luke sorgt dafür, dass unser Traumreich vom Wilden ­Westen, wie es ihn nie gegeben hat, bestehen bleibt. Er kehrt, wie jeder Held, stets an den Anfang der Geschichte zurück. Und er ist, yep, einer der Helden, die sich selber nicht erklären müssen und natürlich auch nicht die geringste Lust darauf haben, es zu tun.

Sein Westen ist das Paradies der verlorenen Kindheit, und es ist zugleich ein Land der grotesken Kleinbürger und der wahnsinnigen Großkotze; seine wesentliche Aufgabe besteht nicht darin, dieses Land zu verändern, sondern vielmehr darin, es zu bewahren. Doch wie die meisten Westerner ist er auch immer wieder an durchaus fragwürdigen Sprüngen von Landnahme und Modernisierung beteiligt – vom Land Run in Oklahoma über die Telegrafen- und Eisenbahnlinien bis zur wissenschaftlichen Erforschung der Wildnis – und muss daher in einer permanenten Fluchtbewegung stecken, die für den Leser und die Leserin einen dreifachen Aspekt ironischer Melancholie birgt: Wir wissen, dass alles das, was Lucky Luke in seiner ewigen Wiederkehr als Held zu bewahren scheint, verloren gegangen ist. Verloren das Paradies der Natur und der Ursprünglichkeit des Landes, verloren das Paradies der Kindheit, in dem man sich immer wieder abenteuerlich selbst erschuf, verloren das Paradies eines Genres, das den Glauben an sich selbst so gründlich verloren hat, dass es sich einzig und allein in der Parodie noch bewahren kann.

Lucky Luke: Das gelobte Land

Lucky Luke ist, wie es scheint, ein Mann irgendwas zwischen zwanzig und dreißig, also durchaus erwachsen. Offensichtlich hat er schon etliches erlebt, wofür unter anderem spricht, dass er sehr häufig alten Freunden (und Feinden) begegnet, mit denen ihn in der Vergangenheit das eine oder andere Abenteuer verbunden hat. Aber zugleich ist Lucky Luke doch auch ein sehr jugendlicher Charakter, vor allem verglichen mit den Kerlen, die auch in der Grenzregion des Westens so langsam das Sagen haben, den Ranchern, Bankern, „Leichenheinis“, Saloonbesitzern oder Politikern. (Die Generation der Väter, wenn man so will, die Generation der Kriege, wenn man es auf Europa bezieht.) Was seine Kunst der Intrige und der Maskerade unter Beweis stellt, ist, dass Lucky Luke keineswegs „naiv“ ist. Er verfügt über das, was die Protagonisten von „Das gelobte Land“ wohl Chuzpe nennen würden: Es ist ja gerade diese Chuzpe, die es ihm ermöglicht, (meistens) auf den Einsatz von roher Gewalt zu verzichten. Und es ist die Chuzpe, die ihn mit dem James Stewart von „Destry rides again“ verbindet. Wie Destry weiß auch Lucky Luke, dass der Westen vor allen Dingen aus Bildern und Vorstellungen besteht. Es geht immer auch um Legenden, und der einsame Cowboy nutzt sowohl die eigene Legende wie die Legenden der Outlaws. Dass Lucky Luke ein lakonischer Held ist, heißt nicht, dass er etwa keine Gemütsregungen zeigen würde. Er kann sich ausschütten vor Lachen, und er kann vor Zorn kochen. (Und wie es bei Pards im Western so üblich ist: Lucky Luke und Jolly Jumper lieben es, sich vor Lachen auszuschütten, wenn der andere sich gerade so oder so zum Narren macht.) Wesentlich ist, dass „Lucky Luke“ sich nicht über den Westen und den Western lustig macht, sondern dass er in beidem, der historischen Situation und dem Genre, den komischen Kern entdeckt.

Wir müssen uns Lucky Luke als glücklichen Menschen vorstellen. Und das nicht obwohl, sondern weil sein Job die reine Sisyphosarbeit ist, nicht nur, was das ewige Wiedereinfangen der Daltons anbelangt. Er ist glücklich, weil er ganz und gar identisch ist mit dem was er tut, ganz im Gegensatz zu den späten Helden des Genres, die spüren müssen, dass sie die Fremdheit in diesem Land nie ganz überwinden werden und die einen Sack voll Schuld und verlorenen Illusionen mit sich herumtragen. Das nomadische Leben macht es ihm leicht, die charakterlichen Schwächen und den Opportunismus seiner Zeitgenossen (die in der Serie nie verschwiegen werden) zu akzeptieren. Es gibt nur eine einzige Sache, die unser Held unter keinen Umständen hinkriegen würde, nämlich das Sesshaftwerden. Deshalb ist das Schlussbild, sein Ritt in die Abendsonne, immer auch ein Glücksbild. Es verweist auf die ewige Wiederkehr und die unbegrenzte Freiheit, und zugleich ist es ein Trost. Wer könnte vor einer Nacht Angst haben, in die einer wie Lucky Luke geritten ist?

Auch das Alter ist in der Welt von Lucky Luke archetypisch. Ein „Billy the Kid“ ist eben wirklich ein verzogenes Kind, das die Stadt terrorisiert, aber auch Bonbons klaut, heißen Kakao als ausschließliches Getränk in „seiner“ Stadt verordnet und Märchen vorgelesen haben will. Und in einer Vielzahl von Geschichten kommt ein „Oldtimer“ vor, meistens im Rollstuhl, dessen Temperament und Streitlust in umgekehrtem Verhältnis zu seinem mutmaßlichen Alter steht. Lucky Luke selber altert nicht (im Gegensatz zu Blueberry, im Gegensatz zu den Westernhelden Hollywoods), das heißt aber nicht, dass er sich nicht verändert. Alter ist in „­Lucky Luke“ kein Prozess, sondern ein Zustand.

Lucky Luke: Billy the Kid

Die zweite Frage ist also die nach seiner Entwicklung. Denn selbst so klassische und verlässliche Helden können nicht stets ganz und gar sie selber bleiben. Sie sind nicht nur Kinder ihrer Erzählzeit, sondern auch Kinder der Zeit ihrer Leserinnen und Leser. Zeichnerisch hat sich der Held von einer recht kindlichen Darstellung über mehrere Zwischenstationen zu dem mehr oder weniger alterslosen Kerl entwickelt, der er nun ist. Diese Entwicklung vollzog sich übrigens nicht vollständig linear, bei manchen Alben zeichnete Morris „kindlicher“ als bei anderen. Obwohl er immer wieder beweist, dass er schneller schießt als sein Schatten, nimmt Lucky Luke – gelegentliche Rückfälle akzeptiert – immer mehr von direkter körperlicher Gewalt Abstand. Sein Verhalten gegenüber anderen Menschen ändert sich, er zeigt immer mehr Respekt und Anteilnahme, schon lange vor den späten Alben, die ganz bewusst auf seine Offenheit für Diversität hinweisen und sogar die Rolle des „white savior“ zurückfahren. Im Prinzip ist ­Lucky Luke ein friedliebender, fast schon gemütlicher Kerl, der es, ganz im Sinne des Genres, eigentlich auf Empfindungen schöner Harmonie und epischer Stille abgesehen hat. Ihn einen Romantiker zu nennen, hieße seine Gelassenheit zu ignorieren, und doch ahnen wir, dass er Momente der Erhabenheit erlebt, am Lagerfeuer oder beim Angeln mit Jolly Jumper am Fluss.

Jolly Jumper nun ist natürlich eine wundervolle Parodie auf all die Wunderpferde der Seriencowboys, aber er ist noch etwas ganz anderes, ein imaginary friend, oder, wenn wir uns die psychologische Abschweifung erlauben dürfen: ein Produkt der Übertragung. Ein bisschen so wie der Tiger Hobbes für den kleinen Calvin in Bill Wattersons Comics, der nur lebendig und sprachbegabt ist, wenn kein Erwachsener zusieht. Auch in der Kommunikation zwischen dem Pferd und seinem Cowboy gibt es keinen Platz für eine dritte Stimme oder ein drittes Paar Ohren. Jolly Jumper ist Lucky Lukes Anima. Dass sie sich blind verstehen, heißt indes nicht, dass sie sich nicht gegenseitig auch immer mal wieder infrage stellen könnten. Wenn Jolly Jumper ab und an ein Auge auf eine hübsche Stute wirft, oder Lucky Luke sich allzu sehr um den „Irrtum der Natur“, den dummen Hund Rantanplan kümmert, kommt durchaus so etwas wie Eifersucht ins Spiel. Sie „foppen“ sich auch gegenseitig, etwa wenn (in „Sarah Bernhardt“) Jolly Jumper ohne Sattel zur obligatorischen Tat galoppieren muss und ­Lucky Luke bemerkt, er habe sich doch vorher auch etwas anziehen können. Dass man sich ständig übereinander beklagt, hat überdies Tradition in Western-Partnerschaften, von „Tex und Kit Carson“ bis „Butch Cassidy and Sundance Kid“ gehört liebevolles Nörgeln einfach dazu, vom ewigen Zoff der ungleichen Brüder in den Hill/Spencer-Filmen ganz zu schweigen. Aber Jolly Jumper und Lucky Luke sind sich darin einig, dass das wahre Glück nur in der Bewegung bestehen kann. In der gemeinsamen Bewegung. Nur gut, dass auch Jolly Jumper nicht altert. Aber auch er verändert sich. Wenn mich nicht alles täuscht, so ist Jolly Jumper über die Bände hinweg selbstbewusster und kritischer geworden. In „Lucky Luke“ geht es nicht nur um einen Cowboy und sein Pferd, sondern auch um ein Pferd und seinen Cowboy.

Lucky Luke ist ein lakonischer Held. Er hat zwar etliches von seiner kindlichen Naivität verloren, aber er ist auch nicht der typische Kerl mit dunkler Vergangenheit (wie es in dem Realfilm mit Jean Dujardin suggeriert wird). Auch die Idee, ihm mit „Lucky Kid“ eine Vergangenheit als echter „Lausbub“ im Westen anzuhängen, hat auf die Figur in der Hauptserie eher wenig Einfluss. Lucky Luke ist einer von denen, die sind, was sie sind. Und damit hat sich’s.

Georg Seeßlen: Lucky Luke. Fast alles über den (nicht gar so) einsamen Cowboy und seinen Wilden Westen • Bertz+Fischer, Berlin 2023 • 272 Seiten • Paperback, 12,5 x 19,5 cm • 18,00 Euro

Sämtliche Abbildungen oben © obs/Egmont Ehapa Media GmbH/Lucky Comics/Egmont Ehapa