Jahre später stößt die Autorin auf Ungereimtheiten in der Familiengeschichte: Vor dem Haus der Großeltern in der Eisvogelstraße sind drei Stolpersteine verlegt worden, die darauf hindeuten, dass ihre Familie von der Zwangsumsiedlung der vormaligen Bewohner profitiert hat. Schaalburg recherchiert und erfährt, dass ihr Großvater bereits 1926 in die NSDAP eintrat. Doch was er während des Kriegs im lettischen Riga gemacht hat, wo allein 1942 über 40 000 Juden erschossen wurden, kann in der Familie niemand beantworten.
Diesem lückenhaften Familiengedächtnis, dem Verdrängen und Verschweigen, setzt die Zeichnerin Fakten, Zahlen und Namen entgegen: Sie ermittelt Adressen, dokumentiert Reisen, bringt Daten miteinander in Verbindung. Schaalburg wird im Laufe ihrer Recherche klar, dass ein tief verborgenes Geheimnis existieren muss, über das niemand mehr Auskunft geben kann. So bleibt man am Ende dieser auf vier Zeitebenen angesiedelten und in ihrer Detailfreude beeindruckenden Graphic Novel ebenso ratlos zurück wie die Autorin. Die Wahrheit ist mit den Menschen, die sie verschwiegen haben, begraben worden.
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 51/2021
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Der Duft der Kiefern“.
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.