Wir haben doch nichts gewusst!

Im Jahr 2014 legte Comickünstlerin Barbara Yelin mit „Irmina“ eine brillante Miniaturstudie darüber vor, wie Mitläufertum ohne ideologische Überzeugung bei den Nazis funktionierte. Die Berliner Comiczeichnerin und Illustratorin Bianca Schaalburg knüpft in ihrer ersten Graphic Novel „Der Duft der Kiefern“ gewissermaßen daran an und seziert anhand ihrer eigenen Familienbiographie das langlebigste deutsche Tätermantra der Nachkriegsgeschichte: Wir haben doch nichts gewusst! Umgekehrt und bevor es Brauch wurde, Rechten bei jeder sich bietenden öffentlichen Gelegenheit mit Emphase ein Ohr zu leihen, gab es mal eine Zeit, in der der antifaschistische Impuls mit einer einzigen Frage an bundesrepublikanischen Küchentischen zum ersten Mal spürbar wurde: Oma, Opa, wart ihr eigentlich Nazis? Schaalburg stellt sie ebenfalls, und die Suche nach der Antwort ist das akribische Zusammentragen von Spuren, die das reflexhafte „Nö“ wider- und die Kultur der Verdrängung, die Abwehr der Schuld offenlegen.

Bianca Schaalburg: „Der Duft der Kiefern“.
Avant-Verlag, Berlin 2021. 208 Seiten. 26 Euro

Schaalburgs Mutter stirbt 2004 an Krebs, die Großmutter ein Jahr darauf an Demenz. Die schwere Art-­Déco-Garnitur, die die Großeltern 1933 zur Hochzeit geschenkt bekamen und die von Schaalburg übernommen wird, als die Großmutter ins Pflegeheim kommt, ist das erste von zahlreichen Elementen, die Schaalburg dazu nutzt, die Vergangenheit in der Gegenwart zu identifizieren. Dies wird der Ausgangspunkt ihrer gemeinsam mit ihrem Sohn durchgeführten Recherche: Verwandte werden befragt, Archive konsultiert, riesige Aktenordner durchsucht, jahrelang Informationen und Dokumente gesammelt und in diesen „Familienroman“ Schaalburgs integriert.

Ob Opa – 1933 Buchhalter bei der Deutschen Arbeitsfront, während des Krieges mit Verwaltungsarbeiten in Riga betraut, mehr ist zunächst nicht bekannt – nun Überzeugungstäter oder Mitläufer war, klärt sich nicht bis ins letzte Detail, aber das Material ist aussagekräftig genug: bereits 1926 Eintritt in die NSDAP, Truppführer in der SA, Schaalburgs Mutter Edda wurde nach der Tochter des Reichsmarschalls Göring benannt, und schließlich ist da noch ein Foto aus dem Jahr 1944, aufgenommen in Riga. Der Opa sitzt auf einem abgemagertem Pferd vor einer Holzbaracke, da war er schon zum Leutnant befördert. Man darf ausschließen, dass die „Verwaltungsarbeit“ ohne Kenntnis der Ermordung der über 40.000 Juden und Kriegsgefangenen im Wald von Biker­nieki absolviert wurde. „Ich war ja nicht so politisch. Ich wusste von nichts“, belog also die Großmutter ihre Enkelin in einer früheren Passage.

Schaalburg erzählt hauptsächlich in drei farblich klar unterscheidbaren Zeitebenen: Sie zeigt die Forschungsarbeit der Gegenwart, ihre 70er-Kindheit (und ebenso das Leben der Mutter) im familiären Klima der Vermeintlichkeiten und die Komponenten des privilegierten Lebens im deutschen Faschismus. Wenn Oma 1979 ihrer elfjährigen Enkelin sagt, dass sie keine Juden kannte, sahen wir bereits einige Seiten zuvor, wie sie sich 1939 in der Berliner Waldsiedlung Zehlendorf, wo die Familie seit 1936 lebt, auf der Straße mit dem jüdischen Arzt Fritz Demuth unterhält: „Sie sehen aber ziemlich angeschlagen aus, werter Doktor. Sie könnten, mit Verlaub, auch mal einen Urlaub gebrauchen. Oder eine Kur, haha.“ – „Nun, wissen Sie, ich war gerade fünf Wochen in Sachsenhausen…“ – „Ach, wie schön! Das liegt doch hinter Oranienburg an der Havel? Eine ganz besonders hübsche Gegend. Ich war da mal wandern.“

Als Schaalburg drei Stolpersteine genau dort, wo sich das Haus der Familie befindet, entdeckt und sich herausstellt, dass diese drei getöteten jüdischen Bewohner „ausziehen mussten, um für die arischen Familien Platz zu schaffen“, zeichnet sie drei weiße Figurenkonturen ins historische Dekor und imaginiert dann auf Basis der spärlichen Dokumentenlage neun Seiten lang ihren mutmaßlichen weiteren Weg bis zum Tod – ein Versuch, die anonymen Biographien nicht dem Geschichtszugriff der Vergangenheitsbewältiger zu überlassen. Vorm Bild schreckt sie dabei aus gutem Grund zurück, aber der Prosatext dringt ich-perspektivisch bis in die Gaskammern vor. Als hätte es 70 Jahre Literaturstreit zwischen Zeitzeugen und folgenden Generationen jüdischer Holocaustüberlebender über die angemessene Darstellung der Shoah nie gegeben.

Wie ernst es dem Nachkriegs­deutschland mit der Akzeptanz der Schuld war, exemplifiziert Schaalburg selbst auf zwei Seiten anhand des Versuchs des Neffen eines der deportierten und enteigneten Bewohner, vom „Wiedergutmachungsamt“ und der „Entschädigungsbehörde“ Rückerstattung zu beantragen. Nach 14 Jahren wurde der Antrag desillusioniert zurückgenommen. „Keine Aussicht auf Wiedergutmachung.“ Die gesellschaftspolitische Abwehr kann unter umgekehrten Vorzeichen auch leicht die Kunst infiltrieren: Wo Deutsche mimetisch bis in die Konzentrationslager vordringen, lauert unweigerlich der Schlussstrich, der Augenblick des „Verstehens“ befördert die Erinnerung zu den Akten. Dabei beweist Schaalburgs Arbeit, dass dieser Prozess niemals abgeschlossen sein darf.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Der Duft der Kiefern“.

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.

Seite aus Bianca Schaalburgs „Der Duft der Kiefern“ (Avant-Verlag)