„Kein anderer“ ist die erste deutsche Übersetzung des US-amerikanischen Comickünstlers R. Kikuo Johnson, dessen Arbeiten sich oft mit dem Leben in seiner Heimat Hawaii beschäftigen und polynesische Alltagsgeschichten um Trauer, Familie und Träume erzählen, realistisch und abseits touristischer Klischees. R. Kiku Johnson wurde 1981 auf Maui, Hawaii geboren. Der Comicautor und Illustrator gestaltete schon mehrfach das prestigeträchtige Cover des „New Yorker“. Seine Erzählungen thematisieren hawaiianische Identität und Legenden der Insel. Für sein Debüt „Night Fisher“ (2005) wurde Johnson mit dem Harvey Award als „Bester Newcomer“ und dem Debütantenpreis Russ Manning Award prämiert. 2012 erschien die All-Ages-Graphic-Novel „The Shark King“ nach einer hawaiianischen Legende. 2021 erschien sein lang erwarteter neuer Comicband „No One Else“ („Kein anderer“), der von der „New York Times“ zu den besten Comics 2021 gekürt wurde. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Reprodukt Verlags.
Lieber R. Kikuo danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mit uns über dein neues Buch „Kein anderer“ zu sprechen. Magst du uns erst mal verraten, wie du zu Comics gekommen bist? Was hat dein Interesse an dem Medium geweckt, und wann hast du begonnen, Comics zu zeichnen?
Ich habe meinen ersten Comic mit neun Jahren gezeichnet und dieses Interesse hat mich nie verlassen. Meine ersten Comics waren schlechte Superheldengeschichten, die denen nachempfunden waren, die ich als Kind las. So wie sich mein Geschmack beim Lesen veränderte, als ich älter wurde, haben sich auch die Comics entwickelt, die ich zeichnete. Im College habe ich dann angefangen, einen semi-autobiografischen Comic über meine High-School-Zeit zu zeichnen: „Night Fisher“ wurde 2005 zu meiner ersten veröffentlichten Graphic Novel.
Kannst du deinen Arbeitsprozess und die Entstehung dieser Geschichte beschreiben?
Vor Jahren habe ich die Geschichte einer Freundin gehört, die die Asche ihres Vaters in der Küche unter der Spüle zwischen lauter Flaschen mit Putzmitteln aufbewahrte. Das war so traurig, seltsam und auf eine düstere Art lustig, alles zugleich. Meine Lieblingserzählungen rufen oft mehrere widersprüchliche Emotionen hervor, und diese Anekdote inspirierte mich dazu, eine kurze Geschichte zu schreiben. Ich schreibe eine Menge kleiner Geschichten, aber diese hier blieb hängen, und ich kam über die Jahre immer wieder darauf zurück. Ich begann mit einem groben Text-Skript, bevor ich das ganze Buch lose skizzierte. Die nächsten zwei Jahre verbrachte ich damit, diesen Entwurf auszugestalten und im Laufe vieler Überarbeitungen zu dem heutigen Buch zu verfeinern.
In „Kein anderer“ gibt es einige wunderschöne Landschaftszeichnungen und auch die letzte Zuckerrohrfabrik Hawaiis wird gezeigt. Was hat es damit auf sich? Warum hast du Hawaii als Handlungsort für diese Geschichte gewählt und nicht beispielsweise deinen Wohnort Brooklyn?
Als ich vor vielen Jahren anfing, das Skript zu „Kein anderer“ zu schreiben, spielte die Geschichte auf Cape Cod, wo ich zu dem Zeitpunkt lebte. Die Idee, den Schauplatz nach Maui zu verlegen, kam mir, als ich 2015 meine Eltern dort besuchte und ein riesiges Zuckerrohrfeuer beobachtete. Die Zuckerherstellung war einst Hawaiis wichtigster Industriezweig. 180 Jahre lang wurde das Zuckerrohr mit massiven kontrollierten Bränden geerntet, wourch nur die zuckerhaltigen Stiele zurückblieben. In der Grundschule regnete die Asche in den Pausen auf uns herab und wir nannten sie „hawaiianischen Schnee“. Auf Maui, wo ich aufgewachsen bin, hielt sich die Zuckerindustrie am längsten, dort wurde die letzte Zuckermühle 2016 geschlossen. In diesem Moment wusste ich, dass ich „Kein anderer“ zeichnen muss. Als die Mühle schloss, merkte ich, wie ich um den Verlust von etwas trauerte, das mich zuvor nie bewegt hatte. Dieses emotionale Paradoxon ist zentral für „Kein anderer“, aber letztendlich habe ich mich dazu entschieden, diese Details über die Zuckerindustrie aus dem Hauptteil des Buches herauszunehmen. Es gibt aber einen kleinen Text dazu auf der Cover-Innenseite.
Trauer ist ein kompliziertes und sehr individuelles Thema und du bist in der Lage, drei sehr verschiedene und gleichzeitig realistische Wege der Trauerbewältigung darzustellen. Hast du Menschen getroffen, die ähnlich getrauert haben wie deine drei Charaktere?
Obwohl „Kein anderer“ fiktional ist, ist mir an einem gewissen Punkt, während ich daran gearbeitet habe, aufgegangen, dass ich meine eigenen Erfahrungen mit dem Verlust meiner vier Großeltern über eine Zeitspanne von 30 Jahren verarbeite. Jeder Tod sorgt dafür, dass sich jede einzelne Beziehung in unserer Familie auf größere oder kleinere Art und Weise verändert hat. Ich denke, die meisten Menschen erleben solche Verschiebungen nach einem Tod in der Familie. Es kostet mich so viel Zeit und Energie, einen Comic zu produzieren, dass die Themen, die ich behandle, mich lebenslang beschäftigen.
Dein Comic erzählt von Trauer, Abschied und Versöhnung, aber es gibt auch immer wieder lustige Momente. War das für dich beim Schreiben wichtig?
Anfangs wollte ich ein Buch machen, das beim Lesen Spaß macht, in der Konzeption war „Kein anderer“ eine reine Komödie. In vielen Aspekten ist es immer noch eine dunkle Komödie, aber je länger ich daran arbeitete, desto mehr verliebte ich mich in die Charaktere und umso ernster wurde das Buch. Viele der „Witze“ werden so unverblümt hervorgebracht, dass sie gar keine Witze mehr sind.
Alleinerziehende und Pflege von älteren Eltern werden thematisch nicht häufig miteinander kombiniert. Hat es für dich eine bestimmte Bedeutung, beides zusammenzubringen, und wenn ja, warum?
In der Belletristik fühle ich mich von Liebe ohne Romantik besonders angesprochen. Fürsorge ist ein physischer Ausdruck für diese Art von Liebe. Wenn eine Person von der anderen abhängig ist, bietet dies außerdem enormes Potential für Konflikte, Pathos und Humor.
Der Großteil der Geschichte kommt ohne viele Worte aus und du kannst einige Handlungsstränge durch sehr subtile Bilder rüberbringen. Wie schwierig ist es, nicht auf erklärenden Text zurückzufallen, um sicherzustellen, dass die gewünschte Geschichte erzählt wird?
Die Szenen ohne Worte benötigten viele Skizzen und Überarbeitungen. Ich habe mich dabei auf die Interpretationen und Einschätzungen vieler Freunde verlassen, um sicherzustellen, dass jedes Detail auf diesen Seiten die Handlung voranbringt.
Der Stil in deinen drei Büchern variiert stark, wie und warum hast du dich für den jeweiligen Zeichenstil entschieden?
„Night Fisher“ hat viele Elemente von Crime Noir und Memoiren, weshalb der malerische Chiaroscuro-Stil (Hell-Dunkel-Stil) zu diesen Themen passt. „The Shark King“ ist ein Action-Comic für Kinder, die farbenfrohen Illustrationen und das dynamische Seitenlayout passten zu dieser Geschichte. „Kein anderer“ ist ein Familiendrama, in dem die Charaktere fast nie sagen, was sie denken, und die meisten Konflikte unter der Oberfläche brodeln. Ich fand, der minimalistische Zeichenstil und die recht konventionellen Seitendesigns ermöglichen es der zurückhaltenden Erzählweise am besten, auf natürliche Weise hervorzutreten.
Du bist hauptsächlich Illustrator für Magazine wie „The New Yorker“ und gestaltest Buchcover und Werbung. Wie gehst du an deine Projekte heran, und wie unterscheidet sich die Arbeit an einer Illustration und einem Comic?
Es gibt fachgerechte Unterschiede, wenn man eine Geschichte in einem einzelnen Bild statt mit vielen Bildern wie auf einer Comicseite erzählt. Meine grundsätzliche Herangehensweise ist aber in beiden Fällen gleich: Ich versuche mich bei jeder ästhetischen Entscheidung von der Geschichte leiten zu lassen. Von der Farbe bis zur Komposition geht jede Entscheidung darauf zurück, ob sie der Erzählung dient.
Woran arbeitest du aktuell und sind weitere große Projekte geplant?
Zurzeit suche ich nach neuen Herausforderungen im Bereich der Illustration und lote Möglichkeiten aus, das Büchermachen zu einem größeren Teil meiner Karriere werden zu lassen.