„Das Zeichnen ist meine Art, Dinge festzuhalten“

Núria Tamarit ist sicherliche eines der aufregendsten jungen Talente der spanischen Comicszene. Im Interview spricht sie über ihre erste deutsche Übersetzung „Toubab“, über ihre eigene Reise in den Sengal, über weiße Privilegien, Grimm‘sche Märchen und die junge spanische Comic-Community. Wir präsntieren dieses Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Reprodukt Verlags.

Liebe Núria, da „Toubab“ dein erster in Deutschland veröffentlichter Comic ist, magst du unseren Leser*innen erst mal ein wenig über dich erzählen? Wann hast du angefangen zu zeichnen und wann hast du Comics für dich entdeckt? Was hat dich an diesem Medium fasziniert und dich dazu inspiriert, selbst Comickünstlerin zu werden?

Als ich klein war, habe ich eigentlich keine Comics gelesen. Ich hatte einige Klassiker wie „Mortadelo y Filemón“ (Clever & Smart), aber ich habe lieber Bücher gelesen und viel gezeichnet. Dann, als ich studierte, traf ich ein paar Freunde, die Comics liebten und mich mit dem Medium vertraut machten. Zu dieser Zeit wurde mir bewusst, dass Comics die zwei Dinge vereinen, die ich am meisten liebe: Illustration und Geschichten. Aus diesem Grund mache ich (immer noch) Comics.

Du hast an der Fachhochschule in Valencia studiert und in dieser Zeit in deinen ersten Fanzines veröffentlicht (z. B. im Magazin „Nimio“, welches auf dem Comic-Salon Barcelona ausgezeichnet wurde). Wie wichtig waren diese Jahre und Erfahrungen für deine spätere Comiclaufbahn? Was hat dich und deine Kunst am meisten beeinflusst?

Ich denke, das waren die wichtigsten Jahre meiner Laufbahn. Ich hatte das Privileg, eine große Gruppe von Freund*innen zu haben, die alle großartige Zeichner*innen waren (und immer noch sind) wie beispielsweise Luis Yang, Anabel Colazo und Xulia Vicente. Ich hatte die Möglichkeit, das Comicmachen zu entdecken und meine Arbeiten in Fanzines zu veröffentlichen. Und ich denke, diese Jahre haben mich als Comickünstlerin mehr wachsen lassen als alle anderen.

Bild aus „Toubab“ (Reprodukt)

„Toubab“ war deine erste selbst verfasste Graphic Novel beim spanischen Verlag „La Cupula“ und basiert auf einer Reise in den Senegal, die du 2017 unternommen hast. Kannst du uns etwas über diese Reise erzählen? Wie kam es dazu und wusstest du schon zu Beginn, dass du einen Comic über deine Erfahrungen zeichnen würdest?

Ich hatte damals eine Freundin, die schon im Senegal gewesen war und einige Leute und eine NGO kannte, also sind wir dorthin gefahren und haben einen Monat lang mit Einheimischen gewohnt und an einer Schule mitgebaut. Ich habe dort viel gezeichnet, weil ich nicht gern fotografiere. Das Zeichnen ist meine Art, Dinge festzuhalten. An eine Graphic Novel habe ich überhaupt nicht gedacht. Als ich zurück in Spanien war, gab es in Valencia diesen Comicpreis und ich dachte, es wäre schön meine Erfahrungen zu teilen und daran zu erinnern, wie wir Europäer die sogenannte Dritte Welt wahrnehmen. Es war wie ein Drang/Bedürfnis, denn „Toubab“ zu zeichnen half mir, all meine Erlebnisse und all die Gedanken, für die ich mich schämte, zu verarbeiten.

Was hast du vor deiner Reise über den Senegal gewusst und haben sich deine Erfahrungen vor Ort mit deinen Vorstellungen von dem Land und von Afrika gedeckt? Was hat dich am meisten überrascht?

Ich war ziemlich überrascht darüber, wie unzureichend meine Vorstellungen vom Senegal waren. Tatsächlich war das einer der Gründe, warum ich diese Reise gemacht habe. Ich war mir meiner Ignoranz bewusst. Hauptsächlich dachte ich, dass es ein armes Land mit traurigen/bedauernswerten Menschen und Problemen sei. Ich fand ein Land vor, das in der Tat arm ist, aber nur weil sich unser Konzept von Armut um das Fehlen brandneuer Gegenstände dreht. Ich war völlig überwältigt, als ich herausfand, dass die Konzepte von Besitz, Solidarität und Freiheit dort deutlich weiter gefasst sind als bei uns in der vermeintlich Ersten Welt.

Bild aus „Toubab“ (Reprodukt)

In „Toubab“ erzählst du die Geschichte aus der Perspektive der Teenagerin Mar, einem Mädchen, das einige Jahre jünger ist, als du bei deiner Reise in den Senegal warst. Warum hast du dich für diese Perspektivenverschiebung im Vergleich zu deinen eigenen Erfahrungen entschieden?

Ich wollte, dass meine Graphic Novel von jungen Erwachsenen gelesen wird. Als 17-jährige hätte ich es geliebt, einen Comic wie „Toubab“ lesen zu können. Außerdem denke ich, dass man in dem Alter noch glaubt, was einem erzählt wird, aber anfängt die Regeln, Autoritäten und den Status quo zu hinterfragen. Für mich war dieser naive und doch kritische Blick etwas, was das Buch zugänglicher macht.

In Deutschland wurde in den letzten Jahren sowohl in den Medien als auch in akademischen Debatten viel über das Thema kulturelle Aneignung und den „weißen Blickwinkel“ diskutiert. Haben dich diese Themen bei deiner Arbeit an „Toubab“ auch beschäftigt?

Natürlich war ich darüber besorgt. Letztendlich dachte ich, dass ich uns allen, die wir in unserer Gesellschaft leben, die Verantwortung für das, was wir gegenüber anderen Ländern tun, erklären wollte. Wir irren uns in vielen unserer Annahmen und sollten dies lernen und von unseren Regierungen Gerechtigkeit für alle fordern. Ich war überzeugt, dass ich mein Privileg nutzen könnte, um dies zu vermitteln.

Bild aus „Toubab“ (Reprodukt)

Diesen Herbst veröffentlicht Reprodukt dein neues Buch „El Enebro“ („Der Wacholderbaum“) – eine Adaption eines Grimm’schen Märchens. Was ist die Geschichte hinter diesem Projekt? Warum hast du dieses Märchen für deinen neuen Comic ausgewählt?

Das Projekt wurde bei mir vom französischen Verlag „Les Aventuriers de l’Étrange“ angetragen und ist Teil einer Reihe, in der unterschiedliche Autoren Märchen der Gebrüder Grimm neu interpretieren. Ich mochte diese Geschichte, weil sie diesen düsteren und magischen Hintergrund hat, aber nicht zu düster und blutig ist. Ich mochte die Vorstellung von der Mutter, die ihrem Stiefsohn den Kopf abhackt und wie sich dieser in einen hübschen Vogel verwandelt und sich rächt. Ich weiß nicht genau, warum, ich habe mich einfach mit der Geschichte verbunden gefühlt.

Kürzlich ist bei Knesebeck ein Sachbuch über Hexen, geschrieben von Matt Ralphs, erschienen, das du illustriert hast. Kannst du uns ein bisschen was zu diesem Buch erzählen? Hast du eine Schwäche für Hexen und Märchenfiguren?

Ich liebe das Fantasy-Genre, deshalb fand ich es furchtbar aufregend, in die tatsächliche Geschichte der Magie einzutauchen und all die verschiedenen Arten von Hexen und magischen Personen zu zeichnen. Ich finde es ist ein wirklich spannendes Buch, das erklärt, wo der Glaube an Magie herkommt und welche magischen Formen, Verbindungen und Rituale existieren. Auch Geschichte habe ich immer schon gemocht, es war also ein perfekter Mix!

Dieses Jahr ist Spanien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse und die spanische Comic- und Literaturszene wird das ganze Jahr im Fokus stehen. Wie würdest du die Comic-Landschaft in Spanien (vor allem die neuen/jungen Künstler*innen) beschreiben? Was sind die interessantesten aktuellen Trends und Entwicklungen in Spanien, die man in Deutschland nicht verpassen sollte?

Das ist eine wirklich schwere Frage. Ich denke, das Spannendste an der aktuellen Comicszene ist die riesige Vielfalt an Geschichten und Stilen, die junge Künstler*innen erproben. Außerdem gibt es eine Menge junger Zeichnerinnen, die die spanische Comicszene aufmischen.

Núria Tamarit: „Toubab – Zwei Münzen“. Aus dem Spanischen von Lea Hübner. Reprodukt, Berlin 2022. 128 Seiten. 20 Euro