Wie Identität gebildet wird

Priscilla Layne will nicht den Konventionen entsprechen. Auch nicht denen der weißen Mehrheitsgesellschaft – zum Beispiel wenn sie im Literaturkurs an der Uni nicht nur die Texte von Rilke, Storm oder Else Lasker-Schüler diskutieren will, sondern auch von der afro-deutschen May Ayim, und damit auf Ablehnung stößt. Und auch die Vorstellungen der eigenen Familie sind ihr zu eng. In der karibischen Gesellschaft sind zum Beispiel die Geschlechterrollen klar aufgeteilt und das bedeutet: Mädchen tragen Rüschenröcke, nicht Dinosaurier-T-Shirts und Skateboards. Aber genau das liebt Priscilla Layne als Kind: Skateboards und „Jurassic Park“.

Der Comic „Rude Girl“ ist eine Emanzipationsgeschichte, in der Priscilla Layne ihre Umwelt auch brüskiert, weil sie sich eingeengt fühlt. Deshalb der Titel „Rude Girl“. Besonders passt der Titel, als Priscilla Layne die Skinhead-Bewegung für sich entdeckt, ihre Haare abschneidet, Springerstiefel kauft und sich endlich stark fühlt.

Anders als in Europa sind Skinheads in den USA exotisch und meist nicht rassistisch. Im Ursprung kommt die Skinheadbewegung aus dem Arbeitermillieu und dem fühlt sich Priscilla Layne verbunden. Priscilla Layne ist also ein starker Skinhead, eine feinsinnige Germanistin, eine Schwarze aus der Karibik – also eigen. Der Comic ist auch deshalb stark, weil er zeigt, wie Identität aus einer Vielzahl von Einflüssen und Vorlieben gebildet wird.

Szene aus „Rude Girl“ (Avant-Verlag)

Immer wieder schafft Birgit Weyhe assoziative Bilder. Wenn sie zum Beispiel davon erzählt, mit welcher Vielfalt an Menschen und Konsumartikeln die Einwanderer aus der Karibik konfrontiert sind und wie die das zum Teil auch überfordert. Dann zeigt Birgit Weyhe ganze Panels voll mit Menschen, Autos, Möbeln, Kleidern und Essen, die kaum zu überschauen sind. Sie überkritzelt Gesichter, die sich ärgern. Sie überkritzelt Babys die schreien.

Birgit Weyhe montiert die Geschichte geschickt, indem sie immer wieder zeigt, wie sie Versatzstücke des Comics Priscilla Layne vorlegt und die kommentieren lässt. Das macht sie, weil ihr schon einmal vorgeworfen wurde, dass sie sich Geschichten von Schwarzen aneignet und daraus ihre eigene Geschichte macht – auch davon erzählt sie im Comic. Und sie macht es, weil Priscilla Layne viel jünger ist und mit Filmen wie „Jurassic Park“ oder US-amerikanischen Comics in einer ganz anderen Popkultur groß geworden ist als die Zeichnerin und sich auch in dieser Hinsicht ein Korrektiv wünscht.

Durch die Montage zeigt der Comic, wie sehr das Bild, das wir von einem Menschen haben, von der Perspektive der Betrachtung abhängt. Mit „Rude Girl“ hat Birgit Weyhe einen vielschichtigen Comic über eine schwarze Germanistik-Professorin gezeichnet – und darüber, dass schwarze Identitäten so divers sind wie die Identitäten jeder anderen Gruppe von Menschen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.04.2022 auf: kulturradio rbb

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Rude Girl“.

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Birgit Weyhe: „Rude Girl“. Avant-Verlag, Berlin 2022. 312 Seiten. 26 Euro