Der Kölner Phantastik-Autor Kai Meyer, der schon länger sowohl im Comic- als auch im Romanbereich aktiv ist, ist ein Belletristik-Hochkaräter. Comicadaptionen seiner Romane, Novellen und Kurzgeschichten erscheinen schon seit Jahren im Splitter Verlag. Der Düsseldorfer Comickünstler und Grafiker Jurek Malottke hat nun einen weiteren Roman Kai Meyers in mesmerisierende Comicbilder übertragen: „Phantasmen“. Meyers Roman von 2014 ist ein Stephen-King-eskes Endzeit-Märchen, das Wiedergänger-Motive mit den populären Weltuntergangsszenarien der letzten Jahre verbindet, und erzählt davon, wie die Gesellschaft durch das Erscheinen von Geistern – millionenfach und überall auf dem Planeten – aus der Bahn geworfen wird.
Der Düsseldorfer Comiczeichner Jurek Malottke hatte bereits 2018 eine furiose Kai-Meyer-Adaption veröffentlicht: „Das Fleisch der Vielen“, ein grafisch an Bill Sienkiewicz gemahnendes Horror-Kammerspiel. „Phantasmen“ ist nun seine bislang größte und ambitionierteste Comicerzählung – mit einem innovativen, konturlosen Artwork, das die Lebenden so gespenstisch erscheinen lässt wie die Geister selbst. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit Meyer und Malottke mit freundlicher Genehmigung des Splitter Verlags. (Beide werden übrigens am 12.05.2022 auf der Bühne des Bielefelder Bunker Ulmenwall zu sehen sein, als Gäste der ersten Live-Aufnahme des Splitter-Podcasts.)
Lieber Kai, danke schon mal, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über deine neue Graphic Novel „Phantasmen“ zu sprechen. Bevor wir uns in dein neues Buch vertiefen, magst du uns eingangs über deine eigene Comicsozialisation erzählen? Bist du selbst Comicleser? Welche Rolle spielt das Medium für dich als Autor und als Leser? Welche Möglichkeiten bietet das Comicmedium, die Belletristik nicht umsetzen kann?
Kai Meyer: Von einem Schriftsteller nimmt man ja immer an, er habe schon als Kind Unmengen von Büchern verschlungen, quasi den kompletten Bullerbü-Kanon. Bei mir war das nicht so. Mir ging es immer um die Faszination von Geschichten per se, egal in welchem Medium. Comics, Filme, Romane – ganz egal. Und Comics waren, neben Fernsehen und Kino, ganz sicher meine erste große Liebe. „Yps“, natürlich, das war in den Siebzigern ein Muss, und dann eigentlich gleich die Ehapa-Alben, weniger die Superhelden, als vielmehr „Krieger der Geisterwelt“, die „Herr der Ringe“-Adaption, die „großen Phantastik-Comics“ – das war mein Einstieg in das Medium. Als Teenager verlagerte sich mein Geschichtenkonsum dann in Richtung Romane und Kinofilme, ehe ich mit achtzehn oder neunzehn durch Alan Moores „Swamp Thing“, Gaimans „Sandman“ und dann eigentlich das komplette Vertigo-Imprint wieder zurück zu den Comics gefunden habe. Die ersten Vertigo-Jahre haben mich in meiner eigenen Arbeit als Romanautor vielleicht stärker geprägt als irgendetwas sonst. Das, was da möglich war, wollte ich in meinen eigenen Büchern ausprobieren und transportieren.
Im Splitter Verlag liegen ja bereits etliche Comicadaptionen von dir vor, darunter sechs Comicalben nach deinen „Wolkenvolk“-Romanen. In welchem Maße warst du in diese Projekte involviert?
All die Zeichner*innen und Autoren, die meine Romane und Kurzgeschichten als Comics adaptiert haben, waren immer so nett, mir alles in allen Stadien vorzulegen. Ich begleite im Grunde die komplette Entstehung, von den ersten Figurenentwürfen über die Seiten-Scribbles bis hin zum finalen Comic. Ich halte mich – von ein paar Anmerkungen hier und da – aus dem Meisten heraus. Wirklich kleinteilig werden meine Eingriffe erst, wenn die fertigen Seiten gelettert werden, wenn es um Zuweisung von Sprechblasen geht, auch um Verständnisfragen und Forumlierungen. Ich schreibe dann durchaus auch mal meine eigenen Dialoge um.
Das einzige Originalalbum, das ich geschrieben habe, war „Engel: Pandoramicum“ für Dieter Jüdt. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich das gern viel öfter tun, und der Plan ist auch noch nicht vom Tisch.
„Phantasmen“ ist bereits deine zweite Zusammenarbeit mit Jurek – vor einigen Jahren hat er schon „Das Fleisch der Vielen“ umgesetzt, eine Adaption von einer deiner Kurzgeschichten. Wie war hier die Zusammenarbeit?
Wie bei meinen anderen Splitter-Adaptionen habe ich auch hier nur die Vorlage geliefert, aber die Textadaption hat Jurek vollständig allein erledigt. Ich hatte mit der Arbeit am Comic im Großen und Ganzen nichts zu tun. Es ist meine Geschichte und es sind meine Texte, aber Jurek hat sich überlegt, was er damit anstellt. Und er hätte das gar nicht besser machen können. Das ist kein hohles Lob, ich bin wirklich völlig begeistert von „Phantasmen“, weil es exakt den Film abbildet, der beim Schreiben in meinem Kopf abgelaufen ist. Ich habe das auch schon über andere Comic-Adaptionen gesagt, und das ist fast ein wenig erschreckend. Vielleicht liegt es auch mit daran, dass ich mich bemühe, sehr bildlich und filmisch zu schreiben. Die Zeichnerinnen und Zeichner scheinen in gewisser Weise fast dasselbe zu sehen wie ich.
Und wie kamen Jurek und du zusammen?
Ich habe einer Fotografin, die einmal Porträtfotos von mir gemacht hat, erzählt, dass es so schwierig sei, in Deutschland gute Comiczeichner zu finden – vor allem solche, die zum einen genug Durchhaltevermögen für so viele Seiten haben und zum anderen nicht nur eigene Geschichten umsetzen wollen. Sie hat mir dann Jurek empfohlen und, nachdem ich mir einige seiner Zeichnungen angesehen hatte, den Kontakt hergestellt. Ich war gleich schwer begeistert von seiner Arbeit, von seinem Ehrgeiz und auch von ihm als Mensch.
„Phantasmen“ ist 2014 als Roman im Carlsen Verlag erschienen. Kannst du dich noch an die Ursprünge der Geschichte erinnern? Wie kamst du auf dieses Setting, in dem sich psychologischer Horror und Weltuntergangs-Action mischen?
Zuerst war der Schauplatz da, die Desierto de Tarbernas, Europas einzige Wüste. Sie liegt in Almeria, also in Südspanien, ist gerade mal zwanzig mal zwanzig Kilometer groß und vor allem bekannt geworden, weil dort in den Sechzigern die meisten Italowestern gedreht wurden, von „Spiel mir das Lied vom Tod“ bis hin zu den zahllosen „Django“-Nachzüglern. Noch heute entstehen dort Filme, etwa der letzte „Terminator“. Ich fand also erst einmal diesen Ort faszinierend. Danach tauchten die beiden Hauptersonen auf, diese beiden sehr speziellen Schwestern Rain und Emma. Ursprünglich habe ich über einen Thriller mit den beiden nachgedacht, der in der Desierto de Tabernas spielen sollte, aber dann bin ich wieder über eine ältere Idee gestolpert: eine Weltuntergangsgeschichte als Horrorroman. Man ist da gedanklich schnell bei Kings „The Stand“ oder McCammons „Swan Song“, aber ich wollte eben nicht solch ein multiperspektivisch erzähltes Epos, sondern ganz nah bei einer Protagonistin bleiben und alles aus ihrer Sicht erzählen. So wurde Rain die Ich-Erzählerin. Als Bedrohung wollte ich auf keinen Fall Zombies oder Aliens, also keines dieser typisschen Invasionsszenarien, und so kam ich auf die Geister. Eine Geistergeschichte hatte ich schon lange schreiben wollen, aber eben auch da nicht den üblichen Haunted-House-Roman. Aus dieser Kombination ist dann etwas ziemlich Neues entstanden. Ich hatte auch großen Spaß daran, die Regeln auszuarbeiten, nach denen dieser Weltuntergang vonstatten geht.
Der Spaß an gesellschaftsverändernden Endzeit-Szenarien wie in „Phantasmen“ ist sicherlich auch, sich Abläufe und soziale Strukturen für die neue Welt zu überlegen. „Phantasmen“ ist voller Ideen, wie die Gesellschaft sich neu strukturiert hat, um mit den Geistererscheinungen im Alltag klarzukommen. Z. B. „Sterbehäuser“ abseits der Zivilisationen, in die todkranke und alte Menschen gebracht werden, damit nach ihrem Tod die Geistererscheinungen an einem Ort isoliert werden können. Wie wichtig sind dir als Autor solche „Worldbuilding“-Details?
Worldbuilding oder auch einfach nur die Konzeption gewisser Gesetzmäßigkeiten ist bei solch einer Geschichte essentiell. Ohne Regeln kann Phantastik sehr willkürlich werden. Das durfte aber bei diesem Szenario auf keinen Fall passieren, darum gab es ganz klare Gesetze, wann und wo die Geister erscheinen. Und die Menschheit kann, wie es eben ihre Art ist, irgendwie damit umgehen. Bis die Geister die Regeln verändern und alles viel schlimmer wird.
Dein Roman ist etliche Jahre vor der Covid-Pandemie erschienen – die Comicadaption erscheint im bereits dritten Jahr der Krise. Habt ihr die Pandemie-Erfahrungen in die Adaption einfließen lassen? Hat sich dein Blick auf das menschliche Verhalten und den zwischenmenschlichen Umgang während globaler Katastrophen gewandelt?
Nein, Jurek hat den Roman genauso adaptiert, wie er damals erschienen ist. Globale Katastrophen sind immer eine Weile lang furchtbar und wühlen uns auf, aber meist wird der Umgang damit innerhalb kurzer Zeit zur Routine. Ich glaube, der Beginn von „Phantasmen“ spiegelt das ganz gut wider. Aber Roman und Comic zeigen eben auch, wie abrupt alles im Chaos versinken kann, wenn sich ein Baustein der Katastrophe verändert. Auch unser alltäglicher Umgang mit Covid basiert auf einem hauchdünnen Sicherheitsgefühl, das durch eine neue, gefährlichere Mutation innerhalb von Tagen zusammenbrechen kann. Die meisten verdrängen diese Vorstellung nur. Geschichten wie „Phantasmen“ zerreißen diese Selbstschutzmembran.
Mit welchen Gefühl möchtest du deine Leser*innen aus „Phantasmen“ entlassen?
Mit Hoffnung. Für die Hauptfiguren und für die Menschheit im Allgemeinen.
Hast du schon weitere Comic-Szenarios in der Mache? Woran arbeitest du gerade?
Eine tolle neue Zeichnerin hat gerade mit der Arbeit an einer Graphic Novel begonnen. Es ist aber noch ein bisschen früh, mehr darüber zu erzählen.
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Lieber Jurek, danke, dass auch du uns etwas von deiner wertvollen Zeit abknappst. Magst du uns auch erst mal ein bisschen über deine Liebe und deine Beziehung zum Medium Comic verraten? Seit wann zeichnest du schon Comics und was bedeutet dir die Kunstform?
Jurek Malottke: Meine ersten Comics entstanden noch zu Grundschulzeiten, als ich begeisterter Donald-Duck-Leser war. Jahrelang hatte ich das „Micky Mau“-Magazin abonniert, kannte bald die Namen aller Zeichner und konnte sie zuverlässig am Stil erkennen. In der Mittelstufe habe ich mich dann für „Calvin und Hobbes“ von Bill Waterson interessiert, der mich nicht nur durch die tollen Zeichnungen, sondern auch sprachlich sehr begeistert hat. All diese Comics gab es im Bücherschrank meiner Eltern. Zum Ende meiner Schulzeit habe ich dann für ein paar Jahre fast komplett mit dem Zeichnen aufgehört, auch keine Comics mehr gelesen. Ich suchte jetzt die Anerkennung von Erwachsenen, und die war mit Comics, meiner Meinung nach, nicht zu bekommen. Erst als meine Tante mir zu Weihnachten drei Graphic Novels geschenkt hat, tolle Bücher auf hohem künstlerischen wie literarischen Niveau, mit Themen für Erwachsene, gab es für mich plötzlich wieder einen Zugang zu dem Medium Comic. Dann gab es kein Halten mehr. Zu der Zeit pendelte ich zwischen Düsseldorf und Hennef, wo ich Kunst studierte, und musste dafür täglich zwei Stunden Zug fahren. Die Stadtbibliothek am Düsseldorfer Hauptbahnhof besitzt eine große Comicsammlung, Zeit hatte ich auch genug und so habe ich mich Jahr für Jahr, Buch für Buch, durch das Sortiment gelesen und mich inspirieren lassen. Auch als Abschlussarbeit meines Studiums habe ich dann einen Comic gezeichnet und davon 50 Stück drucken und binden lassen. Man könnte also sagen, dass Comics mich durch mein ganzes bisheriges Leben begleitet haben. Genauso begeistert war ich allerdings von Filmen, Computerspielen, Musik und zwischenzeitlich Romanen. Es hätte also auch ganz anders kommen können, hätte ich nicht 2017 Kai Meyer kennengelernt.
Ende 2018 erschien deine erste Veröffentlichung bei einem größeren Verlag – „Das Fleisch der Vielen“, die Adaption einer Kai-Meyer-Kurzgeschichte. Wie kam es zu diesem Projekt? Und warum hast du dir diese Story von Kai für eine Comicbearbeitung ausgesucht?
Kai kenne ich durch eine gemeinsame Bekannte. Sie hat uns einander vorgestellt, nachdem sie erfahren hat, dass ich arbeitslos war und er einen Zeichner suchte. Ich hatte damals mit Selbstzweifeln zu kämpfen, wegen derer ich nicht wirklich damit rechnete, dass ein erfolgreicher Schriftsteller wie er an einer Zusammenarbeit mit mir interessiert wäre. Aber wir waren schnell auf einer Wellenlänge. Kai hat mir zwei Geschichten für eine mögliche Adaption geschickt. Bei der einen handelte es sich um ein nie umgesetztes Drehbuch, das andere war die Kurzgeschichte „Das Flesich der Vielen“, die er aussuchte, weil er in meinen Arbeiten eine Nähe zum Horrorgenre erkannt hat. Die Kurzgeschichte hat mir dann auch so gut gefallen, dass ich das Drehbuch gar nicht erst gelesen habe.
Kürzlich erschien mit „Phantasmen“ dein neues Buch, für das du erneut einen Meyer-Stoff adaptiert hast, einen Roman aus dem Jahre 2014. Was hat dich an der Vorlage gereizt und als Comickünstler angesprochen?
Heutzutage kann ich viele Dinge aufzählen, die mich am Roman begeistern. Aber auf den Punkt zu bringen, was genau mich damals zu der Entscheidung bewegt hat, fällt mir schwer. Ich weiß noch, dass ich einen anderen Roman, den Kai mir zur Vorauswahl gestellt hat, nach der Lektüre abgelehnt habe, weil er mir zu nah an „Das Fleisch der Vielen“ war. So etwas wie „Phantasmen“ hatte ich dagegen noch nie gemacht, so eine ausufernde Geschichte mit vielen Schauplätzen, wie geschaffen fürs Kino. Es war mir damals nicht klar, ob ich dazu in der Lage sein würde, der Größe dieser Geschichte gerecht zu werden, und ich glaube, diese Herausforderung hat mich gereizt. Außerdem haben mich die Figuren sehr angesprochen. Mit der rebellischen, zynischen Rain würde ich mich sicher gut verstehen, und ihre leicht autistische Schwester Emma hat mich sehr an mich selbst während meiner Schulzeit erinnert. Ich hatte einfach beim Lesen das große Bedürfnis verspürt, die Welt, in der sie sich bewegen, zum Leben zu erwecken bzw. untergehen zu lassen.
Deine „Das Fleisch der Vielen“-Adaption hatte 70 Seiten, nur wenige Figuren, eine Location – quasi ein Horror-Kammerspiel. Bei „Phantasmen“ adaptierst du einen 400-seitigen Roman mit zahlreichen Wendungen und viel, viel Plot. Kannst du uns ein bisschen über die Unterschiede in der Bearbeitung des Stoffs für die beiden Comics erzählen?
Bei „Das Fleisch der Vielen“ konnte ich direkt loslegen und die ganze Geschichte quasi Absatz für Absatz in Bilder übersetzen. Sobald alle Seiten einmal gezeichnet waren, gab es auch eigentlich nichts mehr, was daran noch geändert werden musste. Das war bei „Phantasmen“ ganz anders. Während ich die Seitenaufteilung gemacht habe, musste ich lange Passagen aus dem Original kürzen. Teilweise waren auch Textänderungen nötig, manchmal musste ich einzelne Bausteine aus Szenen neu zusammensetzen, um trotz der Kürzungen die Aussage und Wirkung des Romans nicht zu verändern. Dabei hat sich immer wieder herausgestellt, dass ich selbst Passagen im Roman überlesen oder falsch verstanden hatte. Am Schluss haben Kai und ich in enger Zusammenarbeit mehrere Monate lang den Comic auf Lesbarkeit hin optimiert. So eine Phase gab es bei unserem ersten Comic gar nicht. Es kam ja noch erschwerend hinzu, dass ich für „Phantasmen“ einen neuen Zeichenstil ausprobiert habe, den ich erst gegen Ende des Projekts hin wirklich beherrschte.
Könntest du uns ein bisschen über deinen Stil und deine Art zu zeichnen erzählen? „Das Fleisch der Vielen“ ist vermutlich klassisch mit Bleistift und Tusche auf Papier entstanden und dann am Computer koloriert worden, oder? „Phantasmen“ scheint mir komplett digital zu sein. Hast du die Zeichenstile bewusst auf die Projekte und ihre jeweiligen Erzählstimmungen angepasst? Wie bist du da jeweils vorgegangen?
Die Idee, bei „Phantasmen“ die Konturen wegzulassen, kam mir beim Kolorieren von „Das Fleisch der Vielen“. Zwischendurch habe ich am Computer die Konturen ausgeschaltet und gesehen, dass die bloße Farbebene darunter häufig ausreichend war, um das Panel lesen zu können. Scharfsinnig dachte ich damals, dass ich mir die Arbeit für die Konturen dann ja sparen und dadurch viel Zeit gewinnen könne. Diese Rechnung ist nicht aufgegangen, aber es war außerdem ein formales Experiment, bei dem ich die Bedeutung der Konturen im Comic auch einmal grundsätzlich hinterfragen wollte. Ich finde, dass sie den Bildern grundsätzlich die Tiefenwirkung kaputtmachen, die mir aber sehr wichtig ist, und die ich gerade für die weiten Landschaften von „Phantasmen“ unbedingt nutzen wollte. Gleichzeitig lebt der Comic aber auch von der Abstraktion der Zeichnung. Aus all diesen Überlegungen ist dann die Ästhetik für „Phantasmen“ entstanden.
Wie hat sich deine Farbgebung von „Das Fleisch der Vielen“ zu „Phantasmen“ weiterentwickelt/gewandelt? In „Fleisch“ setzt du vor allem auf sehr dunkle, dreckige Farbgebung, der Atmosphäre in dem Geisterhotel entsprechend. In „Phantasmen“ wirken die Farben knallig und sehr flächig. Was war dir in Sachen Kolorierung wichtig?
Während der Arbeit an „Phantasmen“ ist meine Begeisterung für die Romanvorlage immer weiter gewachsen. Der birgt wirklich ein ungeheures emotionales Potenzial, von dem ich mich bei der Farbgebung leiten lasse. Die Farben haben hier vor allem die Funktion, die Leser und Leserinnen in die Geschichte hineinzuziehen und ihnen das Gefühl zu vermitteln: Was hier passiert, ist echt, ist wichtig. Gerade der Anfang hat so eine Euphorie: der blaue Himmel, endlose Straßen und das Gefühl, dass eine große Reise bevorsteht. Das muss man spüren beim Lesen.
Darüber hinaus war es mir wichtig, mit „Phantasmen“ etwas ganz Besonderes abzuliefern, was die meisten Leserinnen und Leser so hoffentlich noch nicht gesehen haben. Meine Hoffnung ist, dass ich das Medium Comic dadurch ein wenig bereichern kann und dass der eine oder die andere überrascht feststellt, dass Comics auch „so“ aussehen können.