Auf der Flucht vor Napoleon – „Victor Hugo“

Einsam ist es im Exil – meistens zumindest. Victor Hugo, im Frankreich des neuen Despoten Napoleon III. dank aufrührerischer Schriften in Ungnade gefallen, fristet seine Tage auf der Kanalinsel Guernsey. Dort leistet ihm nicht nur seine Familie, sondern auch seine Geliebte Juliette Drouet Gesellschaft, insofern sollte das Schicksal ja durchaus erträglich sein. Aber Hugo wird gequält von der Erinnerung an seine verstorbene Tochter Leopoldine, die vor Jahren in Frankreich bei einem Bootsunfall unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Bei einer Séance erscheint ihm schließlich der Geist seiner Tochter, was Hugo als Auftrag versteht, endlich Licht in die Sache zu bringen.

Zum Entsetzen seiner Lieben begibt er sich undercover nach Frankreich, wo eine Belohnung auf seinen Kopf steht, und nimmt gemeinsam mit dem alten Freund der Familie, dessen Sohn mit Leopoldine verheiratet war und ebenfalls den Tod fand, Ermittlungen auf, bei denen ihm auch seine frühere Geliebte Leonie d‘Aunet tatkräftig zur Hand geht. Bald stellt sich heraus, dass es eben doch noch Augenzeugen gibt, die von durchaus rätselhaften Vorgängen rund um den damaligen Unfall berichten. Hugo lässt sich bald nicht mehr vom Gedanken abbringen, dass seine Tochter ermordet wurde, und taucht immer tiefer in die Unterwelt von Paris ein, immer verfolgt von den Spitzeln des totalitären Regimes und seiner eigenen Vergangenheit…

Esther Gil (Autorin), Laurent Paturaud (Zeichner): „Victor Hugo – Im Exil“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2019. 120 Seiten. 22 Euro

Was auf den ersten Blick wie eine ziemliche Räuberpistole wirkt, basiert in großen Teilen auf Tatsachen: Der populäre Autor Hugo (sattsam bekannt durch „Les Misérables“, das ja leider als Musical verhunzt wurde, sowie durch den unsterblichen Glöckner der Kirche ohne Dach) machte sich im Paris des selbsternannten Kaisers Napoleon III. keine Freunde und musste, wie nicht wenige kritische Landsleute, ins Exil fliehen. Dort nahm er weiter munter Anteil an den Vorgängen in seiner Heimat, agitierte aber auch emsig gegen die Lokalpolitik: So etwa mobilisierte er die Bevölkerung Guernseys erfolgreich gegen das Todesurteil gegen eine zwielichtige Gestalt, wobei er aber letztendlich (vermutlich durch Intervention der französischen Regierung beim britischen Premier) den Kürzeren zog, eine Affäre, die auch hier als Subplot mitgeführt wird.

Die tiefe Trauer über den Unfalltod seiner Tochter verarbeitete Hugo in diversen Gedichten, und auch seine Teilnahme an den damals populären Séancen entspricht ebenso der Realität wie der bunte Blumenstrauß an Geliebten, die ihn umschwirren. Auch wenn die intriganten Hintergründe des Ablebens der Tochter frei erfunden sind, basiert Esther Gils Geschichte dennoch in weiten Teilen auf der historischen Wahrheit, gespickt mit Figuren wie Napoleon III., dessen Berater Baron Haussmann (mit dem Napoleon Paris zu einem Bollwerk der totalitären Macht ausbauen will), dem mysteriösen Geheimdienstler Vidocq und dem aufsehenerregenden Prozess gegen John Charles Tapner.

Aufwendig inszeniert, teilweise gemäldehaft kommt die Umsetzung daher, mit vielen Auszügen aus Hugos Werken, die dann in einem reichhaltigen Anhang im französischen Original nebst deutscher Übersetzung erscheinen. Insofern nicht nur für alle Freunde der Literatur des 19. Jahrhunderts mehr als einen Blick wert.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.

Seite aus „Victor Hugo“ (Splitter Verlag)