Dieser Beitrag erschien zuerst am 14.04.2022 in: WOZ. Die Wochenzeitung
Die schauen uns an, oder? Ihr Gesicht aber ist blank, mundlos, auch die Nase fehlt. So etwas wie Augen haben sie zwar, aber auch die sind leer, ohne Iris, ohne Pupille. Sehen sie also weniger als wir, diese Gestalten? Oder sehen sie vielleicht doch sogar mehr, weil sie eben drei Augen im Kopf haben statt nur zwei?
Sie sind ein Geheimnis und werden immer eines bleiben, die surrealen Dreiaugenporträts von Andy Fischli. Bis in die letzten Falten und Strähnen lebensecht gezeichnet, in Sepiatönen vor meist schwarzem Hintergrund, als würden sie in einem Fotostudio posieren. Und sie tun so gar nicht mysteriös dabei. Manchen dieser Figuren wachsen Hörner aus dem Kopf oder pelzige Ohren, aber abgesehen davon sind das Menschen wie du oder ich, mit ein paar auffälligen Kennzeichen halt. Ganz gewöhnliche hybride Freaks, die ungeniert zurückblicken, bis wir uns fragen, ob nicht wir hier eigentlich die Freaks sind. Wir, die sie wie gebannt anstarren, als wären sie verwunschene Wesen.
Und jetzt starre ich auf diesen Satz und warte immer noch vergeblich darauf, dass seine Leere sich mit irgendeiner Art von Sinn füllt: Andy Fischli ist gestorben, am 3. März hat er sich das Leben genommen. Und ich muss nochmals an die ungeheuer schöne Bunkerfantasie denken, die er im letzten Sommer für diese Seiten hier gezeichnet hat, zu einem Text von mir – mein erster Fischli, sozusagen, wie ein Kind hatte ich mich darüber gefreut. Er schickte damals dieses grünstichige Reduit in dürrem Gehölz, und oben auf dem Betonklotz saß ein dickes, schwarzes Untier mit Fühlern. „Angstklumpen“ hat Andy dieses wurmähnliche Wesen genannt, als wir uns über seine Skizzen austauschten. Dass so ein gezeichneter Angstklumpen wohl auch nicht einfach aus dem Nichts kommt, darüber haben wir nicht gesprochen.
Der Abgrund über unseren Köpfen
Letztes Jahr erzählte er in einem Interview, das Laura Hilti mit ihm geführt hat, wie er von einer Idee zu einer Geschichte findet und wie aus der Geschichte dann ein Buch wird: „Der Weg dorthin ist oft lang und führt tief ins Unterholz und durchs Gedankengestrüpp. Das ist das Tolle daran, sich zu verlieren und immer weiterzudenken und zu skizzieren, ohne dass man weiß, wo der Weg hinführt.“
Aber wer weiß das schon, wo der Weg hinführt. „Die Welt in tausend Jahren“, so hieß einst eine Serie in der WOZ, eine mehrteilige Carte blanche für wechselnde Zeichner:innen. Und als dann Andy Fischli an der Reihe war, einen Blick in die ferne Zukunft zu wagen, regte ihn das damals, im März 2011, zu einer besonders drastischen Szene an. Die Welt in tausend Jahren, das hieß bei ihm: Rücksturz in die nackte Barbarei, gnadenlos, absolut verstörend. Es gab Reklamationen, das eine oder andere Abo wurde gekündigt.
Doch diese manchmal obszönen, oft abgrundtief makabren Fantasien waren nur eine Seite seines Schaffens. Es gab immer auch den verschmitzten, manchmal herzhaft versauten, ja auch den herzigen Fischli. Die Comicstrips, die er rund acht Jahre lang für die letzte Seite der WOZ zeichnete, konnten in einer Schauermärchenwelt spielen, wo ein beißfreudiger Vampir von Heuschnupfen geplagt wird, oder auch im allzu vertrauten Alltag an der Supermarktkasse, im absurden Loop der Sammelmarken-Supercard-Cumulus-Schikanen. Und einmal ließ Fischli den personifizierten Schlendrian rundum zufrieden durch den Tag gondeln: „Sie sind selten geworden, aber es gibt sie noch, die guten Tage.“
Lustig konnte er selbst dann sein, wenn ihn der gerechte Zorn packte. Einmal lieferte er der WOZ einen hastig hingestrichelten Goldesel ab, ein richtiger Pfusch, völlig untypisch für ihn. Daneben aber ein Erklärtext in Schnürlischrift, der sauber vorrechnete, dass der damalige Novartis-Chef Daniel Vasella bei einem Jahressalär von 29,9 Millionen Franken etwas über 244 Franken pro Minute verdiene, also ungefähr gleich viel, wie er, Fischli, für eine Zeichnung in der WOZ erhalte – und in einer Minute habe er leider gerade mal diesen Gold scheißenden Esel geschafft, und den Text dazu habe er von seiner Freundin schreiben lassen: „Das liegt für mich bei einem derart niedrigen Minutenlohn leider nicht mehr drin. Aber zum Glück verdienen Frauen ja immer noch viel weniger.“ Obszöne Managerlöhne, Gender-Pay-Gap, das Prekariat des freien Künstlers – alles drin, wofür unsereins halbe Essays bräuchte, und der Zorn mit Schalk getarnt.
Dann waren da die szenischen Dialoge zwischen seinen Dreiaugenfiguren, nah am Beziehungsalltag und dabei kaum je auf klassische Pointen hin geschrieben. Da waren seine Eierfiguren, käferartige Winzlinge, die ihr anarchisches Unwesen trieben, wie rudimentäre Vorfahren jener Minions, die später die Kinderzimmer dieser Welt erobern sollten. Da war ein ganzes Kochbuch mit gezeichneten Rezepten – eine feine Sache eigentlich, aber auch latent unpraktisch, weil die überdrehten Geschichten, in denen meist alles schiefgeht, dich vom Kochen abhalten. Oder dann auch mal ein zauberhaftes Traumbild wie die drei dürren Elchkälber, die geruhsam einfach so über den Sternenhimmel spazieren, diesen funkelnden Abgrund über unseren Köpfen – und dort hinten, seht ihr die Sternschnuppe?
Kleine Monster
Aufgewachsen ist Andy Fischli die ersten paar Jahre in Glarus. Später dann Kindheit und Jugend in Greifensee, wie einige Jahre vor ihm der Comiczeichner Christophe Badoux (1964–2016). In dem schon erwähnten Interview erinnert er sich, wie er bei Badoux’ Mutter einen Vorbereitungskurs für die Prüfung zum gestalterischen Vorkurs absolvierte. Dabei habe sie zuallererst allen aufgetragen, die schwarze Tube aus dem Farbkasten zu entfernen: „Ihr arbeitet nur mit Farben. Egal wie dunkel der Schatten auch ist, schwarz ist er nie!“ Das habe ihn damals schwer beeindruckt. Was aber nicht heißt, dass er das später groß beherzigt hätte; er hielt sich dann doch weitgehend an die schwarze Tusche. Nach dem Vorkurs machte er im Atelier von Ursula Hiestand in Zollikon eine Grafikerlehre, seiner Lehrmeisterin verdankte er viel („streng, aber sehr gerecht, eine große Humanistin“).
Dem erlernten Beruf kehrte er 2007 endgültig den Rücken, seither lebte Andy Fischli ganz von seinen Comics, Zeichnungen und Bildern. Seine Bücher und Hefte brachte er im kleinen Picaverlag seiner damaligen Freundin Marianne Studer heraus, die auch nach der Trennung und bis zuletzt seine Verlegerin bleiben sollte. Zusammen gaben sie mehrere Jahre lang eine liebevoll gestaltete Agenda heraus. Eigentlich unbegreiflich, dass nicht längst ein größerer Verlag aus der Szene auf den Plan trat, um Fischli abzuwerben. In frühen Jahren, so erzählt Marianne Studer, sei er von einem renommierten Comicverlag abgelehnt worden, das habe er sehr lange nicht verwunden. Vielleicht saß die Angst vor einer erneuten Zurückweisung auch zu tief. Doch bei allen Schatten, die auf ihm lasteten, sei er für sie „auch der lustigste Mensch“ gewesen, sagt seine Verlegerin. Und so mitfühlend, dass er immer sofort gespürt habe, wenn es jemandem nicht gut ging.
Mit der Zeit wurden seine Bilder feiner und prächtiger, aber auch finsterer, was bei Andy Fischli kein Widerspruch ist. Was ihm am Herzen lag, das hat er in dem Interview ziemlich deutlich gemacht: „Der optimistischen Zerstreuung etwas entgegensetzen. Und dem servilen Alles-wird-gut-Geschwafel. Meist ist das ja nur nachgeplapperte Inhaltslosigkeit, die die Ohnmacht des Gegenübers offenlegt.“
Zuletzt ist von ihm „Der große Wagen“ (2018) erschienen. 48 Seiten, ein gespenstischer Reigen aus lauter Trümmerlandschaften. Ausgeweidete Autowracks, windschiefe und eingestürzte Bretterbuden, viel geborstenes Holz. Dazwischen immer wieder fiese, kleine Kopfwesen mit spitzen Zähnen, als wären die Eierfiguren von früher zu rumpflosen kleinen Monstern mutiert. Und irgendwo am Boden ein kaputter Wegweiser, darauf steht: „Temporallappen“. Seelenlandschaften? Neben einer verfallenen Baracke lesen wir auf der gegenüberliegenden Seite: „Die Bausteine, die Einzelteile, die ich mit mir rumschleppe. Die sich über Jahre und Jahrzehnte angesammelt, aufgestaut haben. Die alles verdrehen, verformen und verkrümmen. Sie sind der Dünger.“
Bei manchen seiner makabren Geschichten von früher wird einem jetzt erst recht mulmig zumute, weil man sie fast unweigerlich prophetisch liest, wie als Vorwegnahme von etwas, was ihm zuletzt unausweichlich schien. Aber auch die Interieurs, die er in den letzten Jahren vermehrt gezeichnet hat, haben etwas Gespenstisches: Zimmer und Kammern, leer geräumt oder verwüstet, aber keine Menschen, nirgends. Oder dann diese detailgenauen Porträts von verlassenen Autos im Nirgendwo, stillgelegt auf einem Planeten, auf dem vielleicht gar niemand mehr da ist, der sie überhaupt zu steuern wüsste. Nur diese wurmähnlichen Geschöpfe mit Fühlern, die den Menschen dereinst vielleicht beerben werden.
Neue Welten schaffen
In einer der „Windgeschichten“ von Adelheid Duvanel steht auch einmal ein Auto am Straßenrand, kein Wrack, aber vom Frost fast unsichtbar gemacht, wenn nicht ein Kind das Wort „Zorn“ auf die Kühlerhaube geschrieben hätte – und das ist der Moment einer poetischen Offenbarung, wie es in der Geschichte heißt: „Seit jenem Augenblick frage ich mich, ob nicht Worte über der großen Leere, über dem Abgrund, in den mein Leben gefallen ist, eine neue Welt schaffen können.“ Worte können das vielleicht, so eine neue Welt schaffen; Bilder und Zeichnungen können es sowieso. Und auch wenn Andy Fischli nicht mehr da ist: Seine Bilder sind da, und sie werden bleiben. Ganze Welten, die uns an den Abgrund erinnern, der darunter liegt und gegen den sie uns abschirmen. Oder die eben auch an den Abgrund über uns erinnern, den wir Himmel nennen.
Aber was soll hier dieses kosmische Pathos, das passt nun wirklich nicht zu Andy Fischli. Lassen wir deshalb lieber seine Bilder sprechen, und wenn ich könnte, würde ich ihm zu Ehren hier noch einen Büchertisch dazu aufstellen. Da wären dann alle seine Bücher und Hefte ausgelegt. Alle bis auf eines, das ist vergriffen: „Der Sinn“ heißt es. Alles da, aber der Sinn ist vergriffen: Das hätte ihm gefallen.
Die Bücher von Andy Fischli sind im Picaverlag erschienen. Bis auf „Der Sinn“ (2010) sind alle lieferbar. Das Interview mit Fischli, das Laura Hilti im Januar 2021 für den Kunstverein „Schichtwechsel“ geführt hat, findet sich auf schichtwechsel.li.
Florian Keller ist Kulturjournalist und Redakteur der Schweizer Wochenzeitung WOZ.