Bruno Duhamels Westerncomic „Falsche Fährten“ kommt gleich zur Sache. Schon im ersten Panel wird uns der Held vorgestellt – en face und in einem close shot, sodass unter seinem Stetsonhut vor allem sein markanter Schnurbart hervorsticht: „Eigentlich heiße ich Jake Siberius Everett Johnson … doch in dieser Stadt bin ich unter dem Namen Jake ‚Wild Faith‘ Johnson bekannt.“ Bruno Duhamel hat seine Western-Hausaufgaben gemacht und versetzt seine Leser*innen mit wenigen Accessoires und filmischen Mitteln in ein Genre, das gerade aufgrund seines wiedererkennbaren Repertoires einen starken Reiz ausübt. Das zweite Panel aber, eine Halbtotale aus der Froschperspektive, reißt uns ebenso schnell aus dieser Welt des 19. Jahrhunderts wieder heraus: eine moderne Polizistin? Ein Tourist mit Foto-Kamera? Eine wilde Reise steht uns bevor.
Jake Johnson ist nur ein Schauspieler, der seit 15 Jahren der Hauptakteur einer Wild-West-Show für Touristen und Familien ist. Seit 1880, so rühmt sich diese Reenactment-Tourifalle, stellen Jake Johnson und eine Handvoll anderer Laienschauspieler eine Schießerei nach, die vor Unzeiten einmal tatsächlich stattgefunden habe. Um historische Authentizität schert sich das Ensemble nicht, auch das Setting ist modernisiert, denn hinter den Bretterfassaden verbergen sich ein China-Imbiss, eine ATM-Bank und ein Schnellrestaurant mit regionalen und veganen Speisen.
Frank, wie Jake Johnson eigentlich heißt, kann mit derlei Geschichtsklitterung wenig anfangen, er lebt seine Rolle, als wäre es sein Leben, und hat sich in seinem Bemühen um Akkuratesse eine ganze Bibliothek über das amerikanische Leben im 19. Jahrhundert zugelegt. Es hat natürlich etwas Ironisches, dass derjenige, der größten Wert auf historische Korrektheit legt, zwischen Realität und Fiktion kaum mehr zu unterscheiden vermag. Rolle und Person sind für ihn nicht zu trennen: „Ich bin Jake ‚Wild Faith‘ Johnson.“ Womöglich hat der Tod seiner Mutter, den er nie verwunden hat, dazu geführt, dass er sich in dieser Vergangenheit voll und ganz verliert. Wie auch immer, der gealterte Eigenbrötler wird entlassen, und das Abschiedsgeschenk seiner Kollegen ist der Ausgangspunkt dieser Road Novel: Eine „Western Luxury Tour“ mit klimatisiertem Reisebus und eigener Führerin wird ihn und uns durch den Grand Canyon und das Death Valley führen.
Kitsch as Kitsch can. Erwartungsgemäß kann Frank mit den Touristen wenig anfangen, die sich in Insta-Posen fotografieren lassen und Klischees reproduzieren, die sie wiederum Westernfilmen entnommen haben könnten. Franks Kampf gegen die Windmühlen der Wildwestromantik ist rührend, ungemein komisch und alles andere als schlicht, denn sein Beharren auf „präzisen Daten, Details und Ereignissen“ wird konterkariert, als er sich in einer rauschhaften Vision in die Zeit seines Alter Ego zurückversetzt fühlt und alles anders erlebt, als er es sich dachte. Nur ein Traum natürlich, aber ein kleiner Zweifel bleibt sowohl bei ihm als auch bei uns.
Fast scheint es, als hätte Duhamel Tocotronics „Im Zweifel für den Zweifel“ im Ohr gehabt oder den Lyriker Heinrich Heine als Lehrmeister. Dessen Gedicht „Das Fräulein stand am Meere“ (1844) führt in zwei Strophen vor, wie Klischee und Realität aufeinanderprallen.
Das Fräulein stand am Meere
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein Sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.
Romantik trifft Realismus. Der französische Zeichner Bruno Duhamel (*1975, „Niemals“) erweist sich als sehr geschickter Touristenführer, der uns Leser*innen auf falsche Fährten schickt und mit einem Lasso unsanft wieder einfängt, immer und immer wieder. Der Clou dieser Story besteht darin, dass es ihr nicht darum geht, eine naiv-verklärte Geschichtsromantik einem womöglich überlegenen Realismus gegenüberzustellen. So einfach ist es nun doch nicht. Kaum dass Frank die Death-Valley-Touristenführerin als Protagonistin der kapitalistischen Unterhaltungsindustrie zu verabscheuen gelernt hat, erweist diese sich als Mexikanerin mit Apachenvorfahren, die sich mit dem Job ihr Leben finanzieren muss. Mit wenigen Panels stürzt Duhamel alles wieder ein, was er zuvor mühsam aufgebaut hat, und sogar in der Künstlichkeit der Touristenattraktion scheint etwas Wildwest-Realität durch.
Der Mensch ist ein Architekt komplexer Lügengebäude und Bewohner von Scheinwelten, und dass Duhamel die Reisegruppe schließlich nach Las Vegas führt, ist alles andere als ironisch: Ausgerechnet an diesem Ort, der geradezu ein Symbol von Oberflächlichkeit, Vergänglichkeit und Künstlichkeit ist, wird er, wie er selbst sagt, „den einzig wahrhaftigen Moment dieser Geschichte“ erleben.
Die Zeichnungen der großformatigen Midwest-Wüstenlandschaften und der überzogenen Charakterköpfe (mit genretypisch eher spärlicher Mimik) sind wundervoll geraten. Oft lohnt es sich, länger auf den Panels zu verweilen, weil sie viele Details enthalten, die bei einer flüchtigen Lektüre verloren gehen.
Duhamel war übrigens, um für seinen Comic, der zuerst 2021 in Frankreich erschien, zu recherchieren, nicht in den USA. Damit steht er ganz in der Tradition Karl Mays, der seine Jugendromane über Old Shatterhand und Winnetou auch verfasste, ohne jemals die Schauplätze zu besuchen. Nach „Falsche Fährten“ wissen wir aber auch, dass beide dort nur Kitsch vorgefunden hätten, bei Duhamel hingegen finden wir eine großartige Story.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.