„Wir waren wohl alle gleichzeitig von der Diffusität der Adoleszenz benebelt“

Hamed Eshrat wurde 1979 in Teheran geboren, seine Familie floh in Folge der Islamischen Revolution aus dem Iran und siedelte sich in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Bünde an. Jahre später erzählt Eshrat in seinem Graphic-Novel-Debüt „Tipping Point – Teheran 1979“ über seine Familie während der politischen Umbrüche im Iran in den 1970ern und von ihren Fluchterfahrungen (liegt bislang nur auf Französisch vor). Seit seinem Studium lebt und arbeitet er als freischaffender Künstler und Autor in Berlin. 2015 debütierte er auch auf Deutsch, mit der autobiografisch angehauchten Erzählung „Venustransit“. Und 2018 folgte die historische Graphic Novel „Nieder mit Hitler!“, für die er zusammen mit dem Historiker Jochen Voit die Lebensgeschichte eines jugendlichen Widerständlers zur Nazizeit recherchierte.

Mit „Coming of H“ kehrt Hamed Eshrat wieder zum autobiografischen Erzählen zurück und beschreibt die intensive Lebensphase zwischen Jugend und Erwachsenwerden. Zwischen Skaten in urbanen Bauruinen, Kiffen, Sprayen und Oberstufe stolpert der junge Hamed aufs Abitur und das Erwachsenwerden zu. Provinzjugend, das volle Programm: Hamed erlebt die erste Liebe, bastelt an seiner Zeichnerzukunft und bangt um seinen besten Freund, der nach etlichen Drogenexperimenten beim berüchtigten „H“ angekommen ist. „Coming of H“ dreht sich aber auch um Integration und Assimilation. Während Hamed als „Deutscher“ aufwächst und sich immer mehr von seinen Wurzeln löst, verzweifelt sein Vater an der neuen Heimat, isoliert sich von seinen Kindern und seiner Frau, bis es zu einem tragischen Unfall (?) kommt.
Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher genehmigung des Avant-Verlags.

Am 7. Oktober 2022 wird Hamed Eshrat sein neues Werk bei der 2. Live-Ausgabe des SplitterCast im Bielefelder Bunker Ulmenwall vorstellen. Tags darauf, am 8. Oktober, folgt eine Lesung in der Stadtbibliothek Bielefeld.

Bild aus „Coming of H“ (Avant-Verlag)

„Nicht denken, skaten!“, ist einer der ersten Sätze, der in deinem neuen Comic „Coming of H“ fällt, einer autobiografischen Erzählung über deine Jugend in Westdeutschland: Skaten, Kiffen, erste Liebe und eine tragische Familiengeschichte. Was waren deine Gedanken, als du dich an diesen Stoff gemacht hast? Warum wolltest du die Geschichte deiner Jugend erzählen?

Nachdem ich mich in meinem letzten Buch „Nieder mit Hitler! oder warum Karl kein Radfahrer sein wollte“ mit einem historischen und ernsteren Thema beschäftigt hatte, wollte ich mich in meinem neuen Comic mit einem lockeren Stoff auseinandersetzen. Anfänglich sollte es eine lustige, schnell gezeichnete Coming-of-Age-Geschichte werden, aber mir wurde schnell klar, dass ich meine Familiengeschichte nicht komplett rauslassen kann. Das hätte der Figur nicht gutgetan, somit habe ich einen weiteren Handlungsstrang mit meiner Familie entwickelt. Der Fokus lag zwar immer noch auf den obigen Themen aus der damaligen Subkultur etc., aber durch die Episoden aus dem Familiären bekam die Geschichte noch eine tiefere Ebene.

Was kannst du uns über dein Alter Ego aus „Coming of H“ erzählen? In welcher Phase seines Lebens lernen wir ihn kennen? Was war dir wichtig bei der Darstellung deines Protagonisten?

Man hört NAS in der westfälischen Provinz und hält sich mit seiner Crew für die Kings. „Whose world is this? The world is yours, the world is yours…“ Mit dieser Attitüde rollten wir durch die Straßen, wobei wir wohl alle gleichzeitig von der Diffusität der Adoleszenz benebelt waren. Manche Dinge erschienen wiederum ganz klar: So wie die wollen wir nicht werden, doch am „Ende“ will man zur Gesellschaft dazugehören, wenigstens ein bisschen. In „Coming of H“ spiegelt der Protagonist dieses Lebensgefühl wieder. Die Geschichte ist eine Verdichtung mehrerer Lebensphasen.

Dein Buch fängt mit einer Szene mit Hamed und seinem Vater an und hört auch mit einer emotionalen, imaginierten Begegnung zwischen Vater und Sohn auf. Du streust in deine Erzählung kurze Episoden zwischen Hamed und seinem Vater. Man merkt aber, dass für den heranwachsenden Hamed das Innenleben seines Vaters nur Hintergrundrauschen ist, schließlich tobt das Leben woanders. Wie würdest du die Beziehung zwischen den beiden Figuren beschreiben? Welche Konflikte und Aspekte ihrer Bindung wolltest du herausarbeiten?

In einer Beziehung ist es immer schwierig, wenn eine Seite zu dominant ist. Mein Vater ließ kaum jemanden an sich ran und er wollte nicht einsehen, dass er krank ist, obwohl er in psychologischer Behandlung war. Mein Vater hatte eine tragische Biografie. Man erfährt ein wenig mehr in meiner ersten Graphic Novel „Tipping Point – Téhéran 1979“ darüber. Inzwischen bin ich ja selbst zweifacher Vater und aus heutiger Sicht war die Beziehung zwischen meinem Vater und mir nicht besonders innig. Wir haben kaum etwas zu zweit unternommen und auch ansonsten haben wir Kinder mehr unser eigenes Ding gemacht. Aber natürlich gab es auch, wie ich es kurz im Comic zeige, sehr schöne Momente mit meinem Vater und uns als Familie. Er war ein sehr sensibler Mann und ich schätze seine Aufrichtigkeit. Das imaginierte Ende ist mein Abschied, ein Verzeihen und mein Ausdruck für bedingungslose Liebe zwischen mir und meinem Vater.

Bild aus „Coming of H“ (Avant-Verlag)

„Vieles ist genau so passiert, einiges ganz anders“, steht zu Beginn deiner Erzählung. Wie bist du mit den autobiografischen Aspekten deiner Geschichte umgegangen? Fällt es dir leicht, über dich selbst zu erzählen, oder kostet es dich Überwindung? Was hast du als Autor für Techniken, um deine eigene Geschichte emotional in Griff zu kriegen und spannend und universell zu erzählen?

Ich habe schon immer sehr gerne geredet und es fällt mir auch nicht schwer, über mich selbst zu erzählen, aber es gibt natürlich Grenzen. Einiges in der Geschichte bleibt daher bewusst angedeutet. Ich überlasse es den Leser*innen, selbst Schlüsse aus den unterschiedlichen Fragmenten zu ziehen. Als ich anfing, habe ich erst mal alles notiert, was mir aus der Zeit einfiel, alte Notizbücher und Fotoalben durchstöbert, mich mit Freunden von damals unterhalten und nebenbei die Figuren zeichnerisch entwickelt. Dann habe ich aus den Anekdoten und Erinnerungen „Überschriften“ für Szenen erstellt. Davon gab es einige. Diese habe ich dann ausgeschnitten und hin und her geschoben, bis ich das Gefühl hatte, dass die Geschichte einen guten Rhythmus hat. Das war dann die Grundstruktur des Comics.

Über die Figur von Hameds Vater erzählst du eine Geschichte des Scheiterns der Anpassung und Integration. In den kurzen Szenen, in denen wir Hameds Vater erleben, merken wir, wie schwer ihm nach all den Jahren der Alltag in Deutschland immer noch fällt, wie sehr ihn das Land und seine eigene Rolle darin bedrücken…

Beim Erzählen im Allgemeinen und im Comic erst recht, muss man vereinfachen, nicht Vereinfachung im Sinne von Einfältigkeit, sondern als Mittel der Reduzierung und Verdichtung. Es freut mich, dass es mir anscheinend in den wenigen Szenen gelungen ist, zu zeigen, dass mein Vater nie richtig in Deutschland angekommen war. Es war mir wichtig zu zeigen, dass es große kulturelle Unterschiede gab und dass nicht jeder von uns aus der Familie leicht damit umgehen konnte. Für mich als Sechsjähriger war es natürlich nicht so schwer, mit einem Neuanfang klarzukommen, mein Vater dagegen hatte größere Probleme, sich in einer neuen Sprache und einer fast konträren Mentalität zurechtzufinden.

Könntest du uns ein bisschen über deinen Zeichenstil in Coming erzählen? Inwiefern unterscheidet sich dein Strich von dem in „Venustransit“ und „Nieder mit Hitler!“? Was war dir zeichnerisch bei dem Buch wichtig?

„Venustransit“ habe ich überwiegend mit einem 2B Stift gezeichnet, Bei „Nieder mit Hitler!“ habe ich die Vorzeichnungen analog und die finalen Seiten digital gezeichnet. „Coming of H“ habe ich komplett digital gezeichnet. Der Gestus sollte rau und ausdrucksstark sein, doch nicht ganz so viele Graustufen wie die Zeichnungen aus „Venustransit“ haben. Zur Unterstützung habe ich beim Zeichnen viel Musik aus der Zeit gehört. Hip-Hop-Beats waren oft eine treibende Kraft im Hintergrund.

Hast du einen Soundtrack zu „Coming of H“ im Kopf? Welche Lieder sollen wir beim Lesen in die Spotify-Playlist schieben?

Es gibt ja tatsächlich eine Spotify-Playlist, besser gesagt zwei. Eine A- und eine B-Seite. Das erklärt sich, wenn man das Buch vor sich liegen hat. Die Playlists sind aber nicht wirklich dafür gedacht, diese beim Lesen zu hören, kann man aber natürlich machen und ist bestimmt sehr unterhaltsam. Jedoch sind es eher Tracks, die ich beim Zeichnen gehört habe, um mich immer wieder in den Spirit dieser Zeit zu versetzen und den Stift mit dem entsprechenden Gestus zu schwingen.

Hamed Eshrat: „Coming of H“. Avant-Verlag, Berlin 2022. 176 Seiten. 26 Euro