Ein unaufgeregtes Meisterwerk

Seit mehr als 20 Jahren zeichnet der Kanadier Michel Rabagliati für die Graphic-Novel-Reihe „Paul“ Alltagsszenen mit autobiografischen Anleihen und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Bislang ist nur „Pauls Ferienjob“ auf Deutsch erschienen. Jetzt ist bei der Edition 52 der aktuelle Band „Paul zu Hause“ herausgekommen. Paul ist inzwischen 50 Jahre alt.

Michel Rabagliati hat ein schönes Bild gefunden, um den fortschreitenden Verfall deutlich zu machen: Vor jedes Kapitel zeichnet er den Baum aus seinem Garten. Schon am Anfang ist der zur Hälfte abgestorben – und geht immer weiter ein, bis nur noch ein Haufen morschen Holzes da ist. Der Baum steht stellvertretend für Paul und sein Zuhause.

Denn es ist einsam um Paul geworden: Seine Frau hat ihn verlassen, seine Tochter geht auch eigene Wege. Und dann werden die Verfallsprozesse immer deutlicher: Zum Beispiel schmerzt sein Körper an immer mehr Stellen und eines Nachts wacht er auf und hat irrsinnige Kopfschmerzen. So sehr, dass er denkt, er habe einen Schlaganfall und ganz panisch wird. Als er den Notruf anruft, hat er ein routiniertes Gegenüber, das ihm Fragen stellt bis klar ist, dass das kein Schlaganfall ist.

Allein dieser Kontrast von Pauls Panik und dem routinierten Notruf birgt eine ungeheure Komik. Und als dann auch noch herausstellt, dass die Ursache für Pauls Kopfschmerzen ganz banal in seinen Zähnen liegt, die behandelt werden müssen, wird es noch komischer. Das Schöne ist, dass Michel Rabagliati sein Alter Ego nie verrät, sondern dass man seine Sorgen nachfühlen kann und mit diesem Comic immer auch ein bisschen über sich selbst lacht.

Bild aus „Paul zu Hause“ (Edition 52)

Michel Rabagliati hat den Comic mit klaren schwarze Linien gezeichnet, die mit Grautönen unterlegt sind. Diese Farbgebung untermalt den lakonischen Ton, den der ganze Comic anschlägt. Denn nicht nur sein Körper wird immer desolater, auch der Garten verwildert mehr und mehr. Und dann ist auch noch das Wasser im Pool ewig trüb und modrig, egal, was Paul unternimmt, um ihn zu säubern.

Der Titel „Paul zu Hause“ ist doppeldeutig: Zum einen ist Paul tatsächlich oft zu Hause, denn er arbeitet als Kindercomiczeichner in seinem Atelier im Keller. Da fühlt er sich richtig gut, denn Zeichnen ist nach wie vor seine Leidenschaft. Als er Versuche unternimmt, auf einer Dating-Plattform Frauen kennenzulernen, gibt er frustriert auf, weil die Frauen, die dort als Interesse Kunst und Literatur angegeben, offenbar nur an Sex interessiert sind – und das verschreckt Paul. Sodass er noch weniger Grund hat, aus dem Haus zu gehen.

„Paul zu Hause“ bedeutet aber auch, dass Paul im Alter von 50 ganz auf sich zurückgeworfen wird. Bei seiner Mutter ist die Krebskrankheit wieder ausgebrochenm sie fühlt sich zu alt und müde, um noch eine Chemotherapie zu überstehen und will einfach nur sterben. Das stürzt Paul in eine Krise. Mit dem nahenden Tod der Mutter bekommt der Comic „Paul zu Hause“ eine ungeheure Wucht – und auch Tiefe. Denn plötzlich wird Paul der Tod vor Augen geführt. Dass Menschen wirklich zu müde zum Weiterleben sein können. Und dass das nichts mit der Müdigkeit und dem Lebensverdruss zu tun hat, die er selbst gerade spürt.

Diese Erkenntnis bringt Paul seiner Schwester näher, mit der zusammen er sich um seine Mutter kümmert. Das ist von Michel Rabagliati zurückhaltend und einfühlsam erzählt: Zum Beispiel Pauls Enttäuschung darüber, dass seine Mutter just dann stirbt, als er kurz zum Duschen verschwindet. Und wie er dann von der Pflegerin aufgefangen wird, die ihm erzählt, dass viele Sterbende auf den Moment warten, in dem sie ganz allein sterben können. Das ist eine der vielen unmittelbaren und berührenden Szenen, die diesen Comic ganz groß machen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 11.01.2023 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Michel Rabagliati: „Paul zu Hause“. Aus dem Französischen von Swantje Baumgart. Edition 52, Wuppertal 2022. 208 Seiten. 25 Euro