Theokratie und Todestrieb

© charliehebdo.fr

Über „Charlie Hebdo“ und die Bedeutung der Karikatur im Kampf gegen Fanatismus, Bigotterie und Despotie.

Im Zeitungsredaktionsraum der Schule, an der ich als Lehrer tätig bin, hängt an einer Wand die eingerahmte Titelseite der ersten „Charlie Hebdo“-Ausgabe nach den islamistischen Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins im Januar 2015. „Tout est pardonné“ (Alles ist vergeben) heißt es darauf in großen Lettern. Die Abbildung darunter zeigt einen weinenden Mohammed, der ein Schild mit der Aufschrift „Je suis Charlie“ in den Händen hält. Der Slogan war damals zum Symbol des Mitgefühls und der Solidarität mit den ermordeten und verletzten Redakteuren des Magazins avanciert.

Die Macher von „Charlie Hebdo“ hatten es also gleich wieder getan und dem mythischen Begründer des Islam entgegen aller verbalen und physischen Einschüchterungsversuche, von denen das Attentat der Kouachi-Brüder den traurigen Höhepunkt bildete, eine titelseitige Karikatur gewidmet. Das war verständlich und vielleicht sogar erwartbar. Statt sich einschüchtern zu lassen, hieß es nun, in die Offensive zu gehen und die Freiheit der Meinung und der Künste zu verteidigen, nicht nur, aber insbesondere im Namen der ermordeten Künstler und Mitarbeiter des Blattes.

© charliehebdo.fr

Abgesehen von der Übertretung des (vermeintlichen) islamischen Bilderverbotes war dennoch einiges anders an diesem Titelbild: Mohammed war nicht als peinlicher Lüstling oder als blutrünstiger Barbar abgebildet. Ein geschockter und mitfühlender Prophet solidarisierte sich mit den Opfern und ihren Angehörigen. Es war eine große Geste der ersten Charlie-Ausgabe danach, eben nicht nur das eigene Recht kompromisslos zu verteidigen, sondern auch das der anderen im Auge zu behalten. Es lag förmlich in der Luft, und (nicht nur) der „Front National“ – heute „Rassemblement“ – gierte danach, die soziokulturellen Konfliktlinien der französischen Gesellschaft endgültig zu unüberwindlichen Demarkationslinien werden zu lassen. Stattdessen sollten mit diesem Titelblatt die Grenzen der Republik anders gezogen werden: Nicht nur Mohammed war einer von „uns“ (sprich: „Charlie“). Angesprochen waren schlicht alle, ungeachtet von Herkunft und Religion, insofern sie sich den religiösen und/oder politischen Phantasien von gesellschaftlicher Totalität und Homogenität widersetzen wollten.

Ein grandioser Aufmacher, der sowohl auf das Recht der Meinungs- und Pressefreiheit insistiert als auch die aus ihrer Macht erwachsende Verantwortung der (Print-)Medien im Blick behält. Zu Recht schaut daher der weinende Mohammed tagtäglich den jungen Redakteur*innen meiner Schule über ihre Schultern, wenn diese an der neuesten Ausgabe der Schülerzeitung feilen. Als Vorbild und Mahnung zugleich.

In den letzten acht Jahren nach dem Attentat und dem Erscheinen der Mohammed-Titelseite ist das Magazin hin und wieder auch in Deutschland Thema gewesen. Am ehesten wurde wohl die Ausgabe wahrgenommen, in der ein lüsterner Erdogan – damals wie heute Präsident der Türkei – den nackten Hintern einer Frau im Tschador enthüllte und dies grinsend mit „OUUUH! LE PROPHETE!“ kommentierte. In dieser Hinsicht sehr erwartbar flippte Erdogan völlig aus, ansonsten waren die Reaktionen auch von Seiten muslimischer Verbände in Frankreich eher verhalten und differenziert ausgefallen. Nachdem ungefähr zur selben Zeit der Lehrer Samuel Paty brutal ermordet worden war, weil er zwei Mohammed-Karikaturen im Geschichtsunterricht thematisierte, wollte man wohl nicht weiter Öl ins Feuer gießen.

© Charlie Hebdo/Twitter

In den ersten Tagen des neuen Jahres hat sich die französische Satirezeitschrift erneut einen Platz in der internationalen Medienöffentlichkeit gesichert und dabei gezeigt, dass sie nicht davon abzurücken gedenkt, weiterhin polemisch und provokant für laizistische und universelle Werte einzutreten. Die den Protesten im Iran gewidmete Ausgabe enthält zahlreiche Karikaturen des „obersten Führers“ Ali Chamenei. Hierzu hatten die Herausgeber des Blattes zu einem Karikaturenwettbewerb aufgerufen und um entsprechende Zusendungen gebeten. Ein Vorgehen, das sowohl an den Aufruf iranischer Geistlicher von 1993 erinnert, den wegen seiner „Satanischen Verse“ verhassten Autor Salman Rushdi zu karikieren, als auch an die beiden vom Iran initiierten „Internationalen Holocaust-Karikaturen-Wettbewerbe“ in den Jahren 2006 und 2016.

Von den mehr als 300 (!) Zusendungen wurden in der Hebdo-Ausgabe schließlich 35 Karikaturen abgedruckt. Die Zeichnungen thematisieren insbesondere die gewaltsame Niederschlagung der Proteste im Iran (und darauf reagierende Ermächtungsphantasien) sowie die sexuelle Bigotterie des theokratischen Regimes. Besonders sticht aber jene Karikatur auf der Umschlagseite hervor, die nicht den iranischen Religionsführer Chamenei (allein) zeigt, sondern eine Gruppe Mullahs, die vor einer übergroßen nackten Frauen mit gespreizten Beinen stehen und nacheinander in deren weit geöffnete Vulva eintreten, als wäre es eine Tür. Betitelt wird die Zeichnung mit „Mullahs, geht dorthin zurück, wo ihr herkommen seid“.

Man könnte die Zeichnung aufgrund ihrer Obszönität für ziemlich daneben halten, dabei trifft sie den Kern der ganzen Tragödie wie keine andere. Denn es ließe sich, um einen Begriff aus der Terminologie des Psychoanalytikers Jacques Lacan zu verwenden, im Falle des iranische Mullahregimes davon sprechen, dass nicht der (männliche) Phallus, sondern ausgerechnet die (weibliche) Vulva den „Herrensignifikanten“ bildet. Vor nichts haben die iranischen Machthaber mehr Angst als vor der Enthüllung weiblicher Sinnlichkeit und Erotik. Das ist der absolute Punkt (undenkbar, unaussprechlich und erst recht nicht darstellbar), über den sich die strengen religiösen Gesetze und der politische Machtanspruch der Ajatollahs überhaupt erst herleiten und legitimieren lassen. Frauenhass und -unterdrückung als zentrales Herrschaftsinstrument. Die Unerbittlichkeit, mit der selbst die geringsten Forderungen nach mehr weiblicher Selbstbestimmung zurückgewiesen werden, und sei es zum Preis des eigenen Untergangs, zeugen davon.

Charlie-Hebdo-Titelbild Ausgabe 1589 (© charliehebdo.fr)

Und auch ein weiterer durch die Karikatur aufgezeigter Punkt betrifft eine psychoanalytische Einsicht: Wie hier die islamischen „Rechtsgelehrten“ in den weiblichen Unterleib einzutreten versuchen, entspricht ziemlich genau Freuds Konzeption des „Todestriebes“ in Form eines regressiven Wunsches nach einer Rückkehr in den Mutterleib und damit der Aufhebung der eigenen Existenz. Statt also ihren Wunsch nach Vernichtung alles Lebendigen gegen andere (Demonstranten, Oppositionelle, Homosexuelle, Drogenabhängige usw.) zu richten, löschen sich die Mullahs hier – an Lemminge erinnernd – einfach selbst aus. Eine feine Idee, möge der letzte das Licht ausschalten!

Ob die Titelseite der Hebdo-Ausgabe nun auch den Redaktionsraum unserer Schulzeitung zieren sollte? Das möchte ich eher bezweifeln, denn die Karikatur ist nicht nur wesentlich komplexer und polarisierender als die Zeichnung des weinenden Mohammed nach den Anschlägen im Januar 2015. Sie fordert ja auch westliche Vorstellungen von Sexualität und ihrer Abbildung heraus. Und dabei geht es nicht nur um Bigotterie und Doppelmoral, sondern auch um die Grade an Sexismus und Frauenfeindlichkeit, die der Karikatur selbst innezuwohnen scheinen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 08.01.2023 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.