Arche des Friedens

© Grandfilm

Sepideh Farsi beeindruckender Animationsfilm „Die Sirene“ erzählt vom Leiden der Zivilbevölkerung im Ersten Golfkrieg.

Von einem Augenblick auf den anderen verfinstert sich der strahlend blaue Himmel über der südiranischen Hafenstadt Abadan. Omid und seine Freunde spielen gerade Fußball, als im Hintergrund des Bildes heftige Explosionen Tod und Zerstörung bringen. Feuer, Rauch und Staubsäulen legen sich über die matten, sandigen Sommerfarben der von Palmen gesäumten Ölstadt am Schatt al-Arab. Im September 1980 beschießt der Irak sein Nachbarland, was zu einem acht Jahre andauernden Krieg mit Tausenden von Toten führen wird. Iranische Freiwillige eilen zur Front. Unter ihnen ist auch Omids älterer Bruder Abed. Während die Mutter des Teenagers mit den kleineren Kindern überhastet die Stadt verlässt, bleibt Omid bei seinem eigensinnigen Großvater Baba Saleh auf dem idyllischen, so friedlich anmutenden Familienanwesen mit dem Palmenhain. Er kümmert sich um seinen Kampfhahn Shir Khân und repariert das Motorrad seines verstorbenen Vaters, der einst zur See gefahren ist. Als sein Freund Farshid im Bombenhagel mit dem Auto verunglückt und schwer verletzt wird, übernimmt Omid dessen Lieferservice.

Inmitten von zunehmender Zerstörung und Chaos schildert Sepideh Farsi in ihrem beeindruckenden Animationsfilm „Die Sirene“ den Überlebenskampf ihres jugendlichen Helden und die Leiden der Zivilbevölkerung. Die Drastik des Krieges und die Absurditäten, die er mit sich bringt, stehen dabei in einem merkwürdigen Kontrast zum illusionslosen Gleichmut der Menschen, denen Omid beim Ausliefern begegnet und die unerschütterlich bestrebt sind, an ihrem gewohnten Leben festzuhalten. Auf seinen Fahrten lernt der Motorradkurier unter anderen die gleichaltrige Pari und ihre Mutter Elaheh kennen, eine berühmte Sängerin mit Berufsverbot, die als „Nachtigall des Morgenlandes“ über Grenzen hinweg einen legendären Ruf genießt. Außerdem trifft Omid auf die Priester einer armenischen Kirche, auf einen griechischen Fotografen und auf einen Katzen liebenden Ingenieur. Sie alle führen mehr oder weniger ein geheimes Leben in ihren selbst geschaffenen Refugien.

Der autobiographisch inspirierte Film, dessen orientalisch-märchenhafte Farbigkeit immer wieder von den Verwüstungen der Detonationen verdunkelt wird, überrascht durch dynamische Perspektivwechsel, die dem inneren Stillstand der Figuren eine äußere Dramatik entgegensetzen. Aufgrund der wiederkehrenden Stationen von Omids rasanten Fahrten durch die Stadt ist „Die Sirene“ auch eine Art Roadmovie, gezeichnet in klaren Linien und in großen Kinobildern fotografiert. Als sich die Belagerung der Stadt zuspitzt, beschließt Omid, das alte, reparaturbedürftige Frachtschiff seines Vaters flottzumachen, um sich und seine neuen Freunde zu retten. Bis diese Arche des Friedens schließlich ablegen kann, sind allerdings noch einige Hindernisse zu überwinden. Sepideh Farsi zeigt die Solidarität und den Zusammenhalt derjenigen, die die Hoffnung nicht aufgeben und die bereit sind, auch über kulturelle Grenzen hinweg einander zu helfen; und die schließlich doch noch den Mut fassen, ihr altes, vom Krieg gestohlenes Leben zurückzulassen, um zu neuen Ufern aufzubrechen.

Diese Kritik erschien zuerst in: filmgazette.de

Die Sirene
(The Sirene)
Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Belgien 2023 – 100 Min.

Regie: Sepideh Farsi – Drehbuch: Javad Djavahery – Produktion: Sébastien Onomo – Montage: Isabelle Manquillet, Grégoire Sivan – Musik: Erik Truffaz – Verleih: Grandfilm – FSK: ab 12 – Kinostart (D): 30.11.2023

Wolfgang Nierlin, geboren 1965. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Heidelberg. Gedichtveröffentlichungen in den Zeitschriften metamorphosen und Van Goghs Ohr. Schreibt Film- und Literaturbesprechungen für Zeitungen (Rhein-Neckar-Zeitung, Mannheimer Morgen u. a.) sowie Fachzeitschriften (Filmbulletin, Filmgazette u. a.). Langjährige Mitarbeit im Programmrat des Heidelberger kommunalen Karlstorkinos.