Gesellenstück als Schwanengesang – Alan Moores „Miracleman“

Ein Rückblick auf Alan Moores Früh- und Meisterwerk „Miracleman“, der Blaupause zu „Watchmen“.

„Miracleman“ war eine der erfreulichsten und wichtigsten Comic-Neuveröffentlichungen der Jahre 2014 bis 2016. Damit erschien endlich wieder das neukolorierte, jahrzehntelang vergriffene (Früh-)Werk des Autors, der mit den populären Attraktionen der Kunstform Comic Anderes, Neueres, Schlaueres anzufangen weiß als jeder andere Szenarist vor oder neben ihm. Seinen Namen hat Alan Moore für den Nachdruck allerdings zurückgezogen – dank eines Gerangels um Rechte, Tantiemen und geistiges Eigentum wird als Skriptverantwortlicher der „Originalautor“ („The Original Writer“) genannt.

Deshalb schließt sich ein Kreis bzw. ist „Miracleman“ auch ein Werk, das zeigt, wie früh die rechtlichen Hickhackereien zwischen Moore und dem kulturindustriellen Franchise-Wesen beginnen und zu dem unrettbar vergrummelten Verhältnis führen, das beide inzwischen miteinander pflegen. Als das frisch startende Schwarzweiß-Comic-Magazin „Warrior“ 1982 nach einem reanimierbaren traditionsfortschreibenden Charakter suchte und diesen in der zwar an Amerikas Captain Marvel angelehnten, aber genuin britischen Figur des aus den 1950ern stammenden Marvelman fand, durfte der zunächst noch so heißen, wurde jedoch später aus den angedeuteten markenrechtlichen Gründen und erwartbaren Streitereien mit Marvel Comics in Miracleman umgetauft. In Moore fand „Warrior“ auch gleich einen Szenaristen dazu, und dieser krempelte den – bei allem Charme – eskapistischen Nachkriegskitsch enthusiastisch auf links.

Der von Migräne und beunruhigenden Träumen vom Fliegen geplagte Journalist Michael Moran entdeckt bei einem terroristischen Anschlag in London seine verschüttgegangene zweite Identität als über die genregenerisch bekannte ganze Breite übermenschlicher Kräfte verfügender und unzerstörbarer kostümierter Übermensch (die seinen Körper immer dann übernimmt, wenn er das Wort „Kimota“ ausspricht), schwängert seine zunächst überforderte, aber zunehmend faszinierte Ehefrau Liz, trifft auf seinen zum Superschurken mutierten ehemaligen Sidekick Johnny Bates alias Kid Miracleman und auf seine Nemesis Doktor Emil Gargunza, der ihm eröffnet, das Ergebnis eines als juvenile Superhelden-Mythologie bloß getarntes Waffen-Klon-DNA-Militär-Großexperiments namens „Projekt Zarathustra“ zu sein. Gargunza, ein mit Heidegger und Hitler konferierender und dank einer UFO-Bruchlandung von 1948 mit Alien-Material versorgter Prä-Genetiker, strebt nach eigener Unsterblichkeit und ist der Vater, der Erbauer des Miracleman und seiner Welt.

In zunehmender Vernachlässigung seines menschlichen Ichs wird Moran nicht nur zu Miracleman und damit zur Wirklichkeit seines fiktiven Neo-Mythos – er nimmt, Bates und Gargunza zurückschlagend, gleich die ganze Welt bei seiner Metamorphose mit und verpasst ihr, schließlich endgültig in seiner Gottesrolle aufgegangen bzw. angekommen, eine auf ein apokalyptisches London-Massaker folgende neue, arkadische Ordnung. Doch zum Goldenen Zeitalter, zu Arkadien gehört neben dem locus amoenus, dem „lieblichen Ort“, auch der locus terribilis. Die Utopie, die nicht nur unzählige Menschenleben kostet, sondern auch der Menschheit die Menschlichkeit austreibt, ist vielleicht doch eine dystopische.


Bis Moore sein neben „V für Vendetta“ größtes Gesellenstück zum schlüssigen Finale führt, vergehen acht Jahre; nach einer auf (was schon?:) Konflikte mit „Warrior“ folgenden Pause setzt der englische Verlag Eclipse – jetzt „Miracleman“ statt „Marvelman“ – den Relaunch fort. Mit Garry Leach, Alan Davis, Chuck Beckum, Rick Veitch und schließlich John Totleben (verantwortlich für das komplette letzte Buch „Olympus“) sorgen fünf verschiedene Zeichner für grafische Brüche, die sowohl mit der prozessual-progressiven Autorschaft als auch mit der Metamorphose der Figur korrespondieren. Am Ende von Miracleman hat Alan Moore dank der gefeierten DC-Serien „Swamp Thing“ und „Watchmen“ den Gottvater-Thron im Szenaristen-Olymp bestiegen und der Welt der populären Comics eine neue Ordnung verpasst.

Der Reiz der Reihe liegt nicht zuletzt in ihrer Entwicklung. „Der Traum vom Fliegen“, der erste Band, lebt wesentlich vom schieren Gehalt seiner Ideen, ist auf eine leicht behäbige Art textlastig-illustrativ und in seinem wenig innovativen Miteinander von Erzählung und Grafik nicht wahnsinnig weit von der Comicästhetik vorangehender Jahrzehnte entfernt. Im zweiten Band wird rumprobiert. Im monologischen letzten Band (Neil Gaiman wird einen vierten nachlegen) ist Moore dann ganz bei sich, auch dank der fluiden und manieristisch-ornamentalen Zeichnungen Totlebens, dessen Stil „Swamp Thing“ so sehr prägt.

Das, wofür „Watchmen“ gerühmt wird, startet hier: die Dekonstruktion eines Comic-Genres als Überführung bis dato kindlich-naiver Superheldenfantasien in die Sphäre des Realistischen, psychologisch Komplexen, hocherzählkulturell Andockbaren. Die besondere Pointe: Es startet nicht nur, sondern bekommt einen mindestens melancholischen Dreh ins Endgültige, Verlorene, eben Dystopische. So viel Erhebendes, Raffiniertes, Witziges und Virtuoses auch präsentiert wird (die Geburt von Miraclemans Tochter Winter ist nicht nur im Rahmen eines Superhelden-Comics bahnbrechend explizit, sondern eine wahre Eloge aufs Leben; die letzte Seite von „Der Traum vom Fliegen“ konfrontiert Panel neben Panel die quasi virtuelle kostümierte Welt mit der wirklichen; Liz kauft stapelweise antiquarische Comics, um zu lernen und das Superkräftefeld ihres Mannes auszumessen; es gibt einen gewaltigen Ritt durch die griechische Mythologie etc.): Moore komponiert die vielen neuen Töne, die er mit „Miracleman“ anstimmt, bereits zu einem Schwanengesang des Genres.

Der Preis dafür, kostümierte Helden und die populären Mythologien bunter Bildgeschichten ernst zu nehmen, ist der Verlust von Spiel, Spaß, Unschuld und Euphorie; letzteres sind Dinge, die von beispielsweise Kurt Busieks immer noch zu wenig gelesener Serie „Astro City“ oder auch dann und wann von Moore selbst (die Silver-Age-Hommage „1963“, die endgültige Meta-Mythos-Fiktion „Promethea“) auf die ebenso breite, aber deutlich leichtere Schulter genommen werden. Anders gesagt: „Miracleman“ ist ein Fest für Leute, die M. Night Shyamalans „Unbreakable“ (2000) für den besten Superheldenfilm aller Zeiten halten. Das ist er aber nun mal irgendwie auch.

Diese Kritik erschien zuerst am 03.08.2014 auf: DieZukunft.de

Alan Moore, Neil Gaiman (Text), Gary Leach, Steve Dillon u. a. (Zeichnungen): Miracleman Bd. 1-4 • Panini, Stuttgart 2014-2016 • 148/180/164/180 Seiten • 29/29/29/39 Euro (nur noch antiquarisch erhältlich)

Sven-Eric Wehmeyer ist Übersetzer, freier Redakteur, Autor und Comic-Experte. Für Random House hat er u. a. mehrere Romane Stephen Kings und Richard Laymons ins Deutsche übertragen.