„Krazy Kat ist wie kein anderer Comic-Strip davor oder danach“, hat Bill Watterson erklärt. Obwohl die erste Episode bereits 1913 erschien, „ist er nach wie vor komplexer als das meiste, was Cartoonisten heute machen“. Mit dieser Einschätzung steht der Schöpfer von „Calvin & Hobbes“ nicht alleine. Schon Zeitgenossen des Zeichners von „Krazy Kat“ bewunderten George Herriman für die Konsequenz, mit der er Humor und Kunst, Hochkultur und Pop, Politik und Persönliches in seinen Comic-Strips miteinander verband. Pablo Picasso, F. Scott Fitzgerald, Charlie Chaplin, Gertrude Stein und viele andere waren Fans, der Lyriker E. E. Cummings sah in den Strips ein Gleichnis für die Beziehung zwischen Gesellschaft und Individuum, andere erkannten eine Frühform des Surrealismus, und der Kulturwissenschaftler Gilbert Seldes bezeichnete „Krazy Kat“ 1924 in einem Essay als den lustigsten, phantastischsten und befriedigendsten Beitrag zur US-amerikanischen Gegenwartskunst. Viel Ehre für einen Zeitungscomic, der seine Leserschaft zusehends überforderte – nur noch 35 US-amerikanische Zeitungen druckten 1944 „Krazy Kat“ regelmäßig, „Popeye“ von Elzie Crisler Segar erschien hingegen damals in 500 Zeitungen. Nur die schützende Hand des Verlegers William Randolph Hearst bewahrte den Strip vor seinem vorzeitigen Ende.
Für Hearst entwickelte Herriman verschiedene Strip-Formate, so auch den täglichen Zeitungscomic „The Dingbat Family“, der von 1910 bis 1916 erschienen ist. Darin erzählte Herriman Tag für Tag von den Problemen einer Familie mit ihren lauten Nachbarn. Aus der Nebenfigur der Katze der Dingbats und ihren Konflikten mit einer kleinen Maus entwickelte sich dann eine immer wichtigere Nebenhandlung, die ab 1913 in einen eigenen täglichen Strip überführt und ab 1916 bis zu Herrimans Tod 1944 um einen ganzseitigen Sonntagscomic ergänzt wurde. Dass „Krazy Kat“ im Laufe der Jahre um seine Leser zu kämpfen hatte, lag vor allem daran, dass nicht die Story, sondern die Form wichtig war. Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Eine Katze liebt eine Maus, bedingungslos und obsessiv; die Maus dagegen wirft der Katze wieder und wieder Ziegelsteine an den Kopf. Ihr „ganzes Sinnen und Streben gilt dem Wunsch, der Katze Schmerzen zuzufügen“, resümiert Alexander Braun, Herausgeber der soeben im Taschen-Verlag veröffentlichten gesammelten farbigen Sonntagsstrips.Das schwierige Verhältnis zwischen Krazy Kat und Ignatz Mouse wird ausbalanciert durch Offica Pupp, einen naiven Hund im Rang eines Polizeioffiziers, der Zuneigung zur Katze verspürt und sich zum Ziel gesetzt hat, sie vor der Maus zu schützen. „Von Amts wegen ist Pupp für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zuständig“, schreibt Braun über die Figurenkonstellation. „Privat ist er der Katze emotional zugeneigt, erkennt aber, dass Krazys Herz allein Ignatz Mouse gehört. So entscheidet er sich für eine uneigennützige Mischung aus Pflichtbewusstsein und Liebesdienst, indem er Ignatz in schöner Regelmäßigkeit in das kleine Wüstengefängnis steckt, möglichst bevor dieser den Ziegel werfen kann.“ Das ist die simple, von 1913 bis 1944 immer wieder variierte Ausgangssituation von „Krazy Kat“. Herriman hat mit seinem Strip die Grundidee des täglichen Zeitungscomics auf die Spitze getrieben: Jedes Mal beginnt die Geschichte der drei ungleichen Tiere aufs Neue, immer wieder darf die Katze auf die Liebe der Maus hoffen, nur um am Ende enttäuscht und von einem Stein getroffen zu werden. Es gibt keine Entwicklung, kein Fortkommen, keinen Ausweg. Und auch keinen Beginn der unglücklichen Liebesgeschichte, keinen Ursprung, kein Altern und kein Happy End.
Gefangen zwischen Begehren und Enttäuschung beklagt sich Krazy Kat in einem Strip aus dem Jahr 1925 in seinem eigentümlichen, verspielten Englisch über sein schweres Doppelleben: „Oy, it’s awful for be lidding a dubbil life.“ Es ist eine Anspielung, die weit über die „Krazy Kat“-Reihe hinausweist: Erst 1971, knapp 30 Jahre nach seinem Tod, wurde bekannt, dass der 1880 in New Orleans geborene Herriman einen afroamerikanischen Hintergrund besaß. Der US-amerikanische Soziologe Arthur Asa Berger hatte die Familiengeschichte für einen Eintrag über Herriman in das „Dictionary of American Biography“ recherchiert. Die Eltern waren mit dem damals zehnjährigen George und dessen Bruder vor dem Rassismus der Südstaaten geflohen und nach Los Angeles gezogen. Dort hatte die relativ hellhäutige Familie die Möglichkeit, ein Leben als Weiße zu führen. Die Eltern schickten George und seinen Bruder auf eine katholische Schule. Das „passing“ in die weiße Gesellschaft gelang, und George Herriman konnte im Jahr 1900 in New York in die Zeitungsbranche gehen, was ihm mit einem offensichtlich afroamerikanischen Hintergrund vermutlich verwehrt geblieben wäre. In New York wurde er bei einer Volkszählung als in Louisiana geborener Weißer mit französischen Vorfahren registriert. Mit dem Wissen um seinen familiären Background, seine Erfahrungen mit Alltagsrassismus und dem Zwang, sich als jemand anderes ausgeben zu müssen, bekommen die Storys um Krazy Kat, Ignatz Mouse und Offica Pupp eine weitere Bedeutungsebene. Sie bilden auch den Versuch ab, den Zuschreibungen und Erwartungen zu entkommen, die mit den Figuren Hund, Katze, Maus verbunden sind, doch geraten sie dadurch in neue Zwangsverhältnisse, aus denen es ebenso wenig ein Entkommen gibt wie aus Herrimans Performance als weißer Amerikaner.Der Comic spielt mit der Erwartung des Steinwurfs und den daraus folgenden Konsequenzen; er lässt den Lesern durch die Variation des Immergleichen jedoch auch die Möglichkeit, sich auf Nebenaspekte zu konzentrieren: Die Landschaft, den Himmel, die Sprache. Coconino County heißt die vom Monument Valley inspirierte, sich ständig verändernde Wüstenlandschaft, in der die Tiere leben. Während die Tiere nicht aus ihren zwanghaften Handlungen treten können, verändert sich die Landschaft stets, sogar von einem Panel zum nächsten. Vor allem auf den farbigen Sonntagsseiten, die in einer aufwendigen Ausgabe nun zum ersten Mal in Originalgröße gesammelt vorliegen, lässt sich die Kunst Herrimans nachvollziehen. Herriman löst die starre Seiteneinteilung auf, lässt Panels kippen und die Figuren die Leser ansprechen. „I am, indeed, an artist“, sagt Ignatz Mouse einmal und zeichnet einen Stein. Als Pupp ihn mit den Worten „No bricks“ unterbricht, antwortet die Maus: „This is only a drawing of a brick, I can’t toss it“ – um ihn dann schließlich doch der Katze an den Kopf zu pfeffern. Kein Wunder, dass in Artikeln zu George Herriman immer wieder die Nähe zu künstlerischen Entwicklungen jener Jahre betont wird; René Magritte hat mit seinem Bild „Der Verrat der Bilder“, der berühmten gemalten Pfeife, ähnliche Fragen nach dem Verhältnis von Abbild und Wirklichkeit gestellt. Auch Herriman lässt die Leser gerne verwirrt zurück.
Herrimans Comics leben von Missverständnissen: Jeder der Protagonisten glaubt die Intentionen der anderen zu kennen, liegt aber völlig daneben – der Steinwurf von Ignatz Mouse ist kein Liebesbeweis, Krazy Kat will von Offica Pupp nicht beschützt werden. Erneut wird deutlich, dass der Figurenkonstellation das Nachdenken über das Verhältnis von gesellschaftlichen Konventionen, persönlichen Bedürfnissen und der performten Identität zugrunde liegt, ein Verhältnis, das auch Herriman persönlich umgetrieben haben dürfte. Er hat keine Steine geworfen, sondern mit „Krazy Kat“ einen bis heute nicht wieder erreichten Höhepunkt in der Geschichte des Comics geschaffen.
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 41/2019
Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Krazy Kat“.
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.