Duca Lamberti war der erste wirklich moderne „Held“ der italienischen, wenn nicht gar europäischen Kriminalliteratur. Jetzt kann man ihm auch in Paolo Bacilieris Graphic Novel „Private Venus“ nachspüren.
Als vor ein paar Jahren, na ja, so um 2018 rum, der Folio-Verlag einen der wichtigsten Meilensteine des europäischen Kriminalromans, das sogenannte „Duca-Lamberti-Quartett“ von Giorgio Scerbanenco (1911–1969) in einer schönen Edition wieder auflegte, passierte das, was immer wieder und viel zu oft passiert. Die Kritik war begeistert, das breite Publikum zuckte mit den Achseln und las lieber kuscheligen Italien-Schrott von Donna Leon oder anderen Pizza & Pasta-Schlonz. Der Name Scerbanenco tauchte für einen Moment auf, bevor er wieder verschwand.
Aber vielleicht geht’s ja mit Bildern besser. Deswegen startet jetzt der avant-verlag mit der Comic-Version der Lamberti-Romane, deren erster Band „Private Venus“, im Original „Venere Privata“ (von 1964), von Myriam Alfano adaptiert (nach der Übersetzung von Christiane Rhein) und von Paolo Bacilieri gezeichnet wurde.
Die komplexe Vorgeschichte des Dottore Duca Lamberti wird in den Comic-Fassung extrem ökonomisch abgehandelt – Lamberti ist Arzt, der, weil er aus Mitleid aktive Sterbehilfe geleistet hatte, Job und Approbation verloren hat, und Jobs annehmen muss, um sich, seine Schwester und deren uneheliches Kind durchs Leben zu bringen. Diese Jobs kommen von einem Freund bei der Polizei, der, wie viele andere Menschen auch, in Lamberti eher einen Helden als einen Mörder sieht.
Der aktuelle Job von Lamberti besteht zunächst darin, den Sohn eines superreichen Mailänder Industriellen vom Saufen abzuhalten. Dieser Sohn, Davide, bildet sich nämlich ein, für den Tod einer hübschen jungen Frau verantwortlich zu sein, der er nicht geholfen hat, aus Mailand zu fliehen, und die als Selbstmörderin aufgefunden wird. Um Davide nüchtern zu bekommen, fängt Duca Lamberti an zu ermitteln. Die Spur führt zu einem Ring von Pornofilmern, Mädchenhändlern und Zuhältern der Luxusklasse, natürlich Mafia, natürlich international vernetzt. Mit Hilfe der Soziologin Livia Ussaro – eine beindruckende Figur bei Scerbanenco, nicht minder beeindruckend bei Bacilieri –, die Prostitution als Selbstversuch betrieben hat, um über weibliche Sexualität und weibliche Selbstbestimmung zu forschen (wir schreiben das Jahr 1964, als der Roman erschien), stellt er den Gangstern eine Falle. Mit Livia Ussario (= Husar) als Köder.
Der Schauplatz ist wichtig – Mailand und Umgebung, während des Wirtschaftsbooms der 1960er Jahre, der Sitz von Geld und Macht, der Ort von Mode und Moderne, von kalter Betonarchitektur und Retortenstädten wie Metanopoli. Bacilieris Bilder sind durchweg in hellem Grau gehalten, kühl, bis kalt. Effektiv und praktisch, wie die Methoden der Mafia, die Fotosessions, die wir miterleben, fast steril – bis die Gewalt einsetzt. Verbunden sind die ruhigen, streng komponierten Panels durch gezeichnete Sprechblasen, die wie Schläuche die Dialoge von einer Figur zur anderen (oder auch zu mehreren) transportieren. Sie sind das Kontinuum, das die Geschichte zusammenhält. Durch die Dialoge erfahren wir, wie Duca Lamberti, der sich rührend um Menschen kümmert, gleichzeitig ziemlich eisig und skrupellos planen kann, das Leben von Livia Ussaro zu riskieren. Und auch er, von Bacieri eher als unauffälliger Herr in den mittleren Jahren gezeichnet, kann explodieren, brutal, grausam, gnadenlos, wenn es gegen die Bösen geht, aber auch gnadenlos und grausam, wenn jemand seine Prioritäten stört.
Die komplexe Figur Lamberti ist in „Private Venus“ angelegt, aber noch lange nicht ausgefaltet. Aber man kann schon spüren, was Duca Lamberti zum ersten wirklich modernen „Helden“ der italienischen, wenn nicht gar europäischen Kriminalliteratur machen wird: Er wird jede identifikatorische Lesart blockieren – er ist kein oberflächlich netter Maigret, er ist kein charmanter Tom Ripley, mit dem man bangen könnte. Er ist aber auch kein Ekelpaket, an dessen Schurkentaten man sich voyeuristisch ergötzen könnte. Duca Lamberti ist, im besten Sinne, „eigenartig“. Ich bin gespannt auf die restlichen drei Bände, und darauf, ob darin eine eigene Interpretation der Lamberti-Figur von Alfano und Bacilieri stattfindet oder ob sie sich eher weiterhin der Vorlagentreue verpflichtet fühlen. Beide Optionen wären völlig okay.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 01.05.2024 auf: CulturMag
Paolo Bacilieri/Giorgio Scerbanenco: Private Venus • Aus dem Italienischen von Myriam Alfano • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 158 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.