Frexit total

Diese Kritik erschien zuerst in: Freitag 35/2016

Michel Houellebecqs dystopscher Roman „Unterwerfung“ über eine schleichende (Selbst-)Islamisierung der französischen Gesellschaft erschien nahezu zeitgleich mit den islamistischen Anschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und einen Supermarkt für koschere Waren in Paris. Ein merkwürdiges Zusammentreffen, das es zumindest erlaubt, dem Autor ein Gespür für den latent bis manifest gewaltsamen Zustand der politischen Kultur in Frankreich zuzusprechen. Es ist sicher auch kein Zufall, dass der rechtskonservative Philosoph Alain Finkielkraut unlängst Houellebecq als le „grand romancier du possible“ bezeichnete. Bestätigt doch jener mit seiner Erzählung das wirkmächtige Phantasma der konservativen bis extremen Rechten von einer Unterwanderung des Staats und der Gesellschaft durch – vorzugsweise muslimische – Einwanderer. Angesichts der in Frankreich grassierenden Islamfeindlichkeit und des Höhenflugs des rechtsextremen Front National (FN) müsste man den Begriff des „Möglichen“ allerdings schon sehr weit auslegen, um sich über eine solche Feststellung nicht traurig totzulachen. Dessen ist sich der im wahrsten Sinne des Wortes streitlustige Schriftsteller im Unterschied zu Finkielkraut wohl auch sehr bewusst gewesen.

Das comicale Zukunftsszenario „Die Präsidentin“, das der Historiker und Bildungsexperte François Durpaire zusammen mit dem Zeichner Farid Boudjellal entwickelt hat, beweist da wesentlich mehr Realitätssinn. Auch hier scheinen die Institutionen der V. Republik sturmreif zu sein, aber anders als bei Houellebecq werden sie nicht durch eine islamistische Partei eingenommen, sondern Schritt für Schritt durch den FN und dessen Vorsitzende Marine Le Pen.

Darüber mag man nun höchstens noch aus schierer Verzweiflung lachen. Zwar sind die momentanen Umfragen zum Ausgang der Präsidentschaftswahlen 2017 noch wenig aussagekräftig, da sowohl die liberalkonservative republikanische Partei als auch die Sozialisten über ihren Kandidaten noch nicht entschieden haben, doch zumindest weisen jüngste Erhebungen darauf hin, dass Le Pen die Stichwahl erreichen wird. Ob sich dann die linken und bürgerlichen Parteien einig genug sind, um wie 2002 eine rechtsextreme Präsidentschaft im Schlussspurt noch zu verhindern, ist fraglich.

Bild aus „Die Präsidentin“ (Jacoby & Stuart)

Im Überwachungsstaat

Durpaire und Boudjellal gehen jedenfalls vom Schlimmsten aus: Die Zerstrittenheit der bürgerlichen Rechten und die Unbeliebtheit des Amtsinhabers Hollande führen dazu, dass Marine Le Pen im Mai 2017 nicht nur in den Élysée-Palast einziehen, sondern ihr Schreckgespenst der Kohabitation (einer Präsidentschaft ohne eigene parlamentarische Mehrheit) abschütteln kann – indem rechte und zentristische Abgeordnete der Nationalversammlung durch angebotene Kabinettsposten und andere Versprechungen reihenweise ins Lager des Front National überlaufen. Ohne Zaudern macht sich die neue Präsidentin denn auch an die konsequente Umsetzung des Partei- und Wahlprogramms: Rückkehr zum französichen Franc, NATO-Ausstieg, Aussetzung des Schengen-Abkommens, Ausweisung aller „illegalen“ Ausländer sowie der Subventionsstopp für die missliebigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und (links-)liberalen Zeitungen. Ein totalitärer Überwachungsstaat entsteht. In Teilen des Landes finden bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern der extremen Rechten statt.

Durpaire bezeichnet sein Buch als einen „politischen Comic-Roman“. Er öffnet seinen Lesern frappierend realistisch die Augen über die Tragweite der anstehenden Wahlentscheidung. Das ganze Szenario ist auch deshalb bedrückend plausibel, weil die Autoren mit bekannten französischen Wirtschafts- und Politikexperten zusammengearbeitet haben (denen hier und dort auch ein kleiner Gastauftritt im Comic zugestanden wurde).

Einen breiten Raum nimmt die Behandlung des zentralen Wahlversprechens Marine Le Pens ein, die französische Volkswirtschaft schlicht zu renationalisieren. Im Zeitalter der globalisierten Finanz- und Gütermärkte muss ein solches Vorhaben, nennen wir es Frexit, im ökonomischen Desaster enden.

Doppelseite aus „Die Präsidentin“ (Jacoby & Stuart)

Die romanhafte Rahmenhandlung über die 94-jährige ehemalige Résistancekämpferin Antoinette und die jugendliche Migrantin Fati, die angesichts der veränderten politischen Wetterlage vergeblich auf eine Verlängerung ihres Aufenthaltsstatus wartet, führt wiederum eine persönlichere Note ein, vermutlich als eine Identifikationsfigur für ein Lesepublikum gedacht, das in einem Comic auch unterhalten werden will. Wie überhaupt Durpaire für seinen Politkrimi vielleicht auch deshalb das Comicmedium wählte. Selbst wenn der Comic in Frankreich noch weniger als in Deutschland als ein reines Kinder- und Jugendmedium betrachtet und auch unabhängig von Bildung und sozialem Status als Kunstform anerkannt wird, geht es Autor und Zeichner wohl darum, insbesondere junge Menschen aufzurütteln. Zudem ist bekannt, dass wenig informierte Jugendliche (und Erwachsene) am ehesten durch die polarisierenden Desinformationskampagnen des FN angesprochen werden.

Abgesehen von dieser eher zweckrationalen Motivation für die Wahl des Mediums entfalten sich in der Graphic Novel hin und wieder auch die ästhetischen Potenziale, aber richtig toll gezeichnet ist der Comic nicht, das muss man einfach sagen. Die karikierende und pädagogische Stoßrichtung ist doch recht plakativ geraten. Das kann auch die wichtige Intention der Macher nicht wirklich ausgleichen. Hervorzuheben ist eine mehrseitige Sequenz, in der die offiziellen Präsidentenporträts in chronologischer Reihenfolge präsentiert werden, die Marine Le Pen wiederum höhnisch kommentiert. In der Simultaneität der hier ausgestellten Porträts – wie sie eben nur im Comic möglich ist – wird ersichtlich, welche der abgebildeten Präsidenten von Charles de Gaulle bis François Hollande ein persönliches Profil, eine politische Idee oder wenigstens die Idee einer Idee verkörperten. Es ist wohl kaum erwähnenswert, dass der momentane Amtsinhaber im visuellen Vergleich mit seinen Vorgängern eine besonders schlechte Figur macht. Farid Boudjellal gibt eine Vorstellung davon, wie ein offizielles Amtsbildnis Le Pens aussehen könnte. Am Schreibtisch sitzend signalisiert sie grinsend dem Betrachter: Ich mache mich sofort an die Arbeit! Was für manche als Verheißung gelten mag, kann insbesondere für die schwachen und verwundbaren Teile der französischen Bevölkerung als ultimative Drohung verstanden werden.

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Die Präsidentin“.

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

François Durpaire (Autor), Farid Boudjellal (Zeichner): „Die Präsidentin“. Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Jacoby & Stuart, Berlin 2016. 160 Seiten. 19,95 Euro