Neun Tote und viele Fragen

1959 starben neun Bergwanderinnen und -wanderer unter mysteriösen Umständen bei einer Expedition im nördlichen Ural. In „Das Unglück am Djatlow-Pass“ wird der berühmte Fall wieder aufgerollt.

Nördliches Uralgebirge, Ende Januar 1959. Eine Gruppe erfahrener Skiwanderer, fast alle Studenten des Polytechnischen Instituts des Urals, begibt sich auf eine Tour in das Gebirge. Sechzehn Tage soll der Trip dauern, für alle ein Abenteuer, aber nicht ihr erstes dieser Art. Als die Gruppe am 20. Februar noch immer nicht am Zielort eingetroffen ist, startet man eine ausgedehnte Suchaktion in dem unzugänglichen Gebiet. Sieben Tage später findet man die ersten beiden Leichen. Bald folgt die schreckliche Gewissheit: Alle neun Teilnehmer der Gruppe, darunter zwei Frauen, sind tot. Die Todesumstände zu klären erweist sich schnell als nahezu unmöglich. Zu viele Ungereimtheiten und Merkwürdigkeiten werden entdeckt. Bis heute ist unklar, wie das Drama vonstattenging, was etlichen wilden Theorien Tür und Tor öffnete.

Im Mittelpunkt dieses Bandes steht der Ermittler Lew Nikititsch Iwanow. Ein offenbar schlauer Kopf mit deduktiven Fähigkeiten, der am 26. Februar von oberster Stelle mit der Aufklärung des Verschwindens der Gruppe betraut wird, also noch ehe die ersten Toten gefunden werden. Die entdeckt man auf dem Gebirgspass, der später den Namen des Gruppenführers Djatlow tragen wird, womit das Rätsel seinen Anfang nimmt: wieso sind beide Tote bei der Eiseskälte nur leicht bekleidet und tragen keine Schuhe – mehrere hundert Meter von ihrem Zelt entfernt? Warum wurde dieses von innen aufgeschnitten? Warum weisen die Toten Verletzungen und Verbrennungen auf? Und sogar erhöhte Radioaktivität? Alles Rätsel, die nach dem späteren Fund weiterer Leichen, die teilweise übel zugerichtet sind, nur noch größer werden.

Bald merkt Iwanow, dass er und seine Ermittlungen ausgebremst werden. Man will den Fall schleunigst abschließen und lässt beispielsweise bei den Obduktionen zahlreiche Details unter den Tisch fallen. Ende Mai 1959 wird der Fall als abgeschlossen erklärt. Offiziell starben die Wanderer entweder an Unterkühlung oder durch ein Unglück. Der Plot wechselt zwischen den Skiwanderern (vor dem Unglück) und den Ermittlungen Iwanows (nach dem Unglück), wobei Autor Cédric Mayen und Zeichner Alejandro González kaum eigene Interpretationen und Lösungen anbieten, allenfalls Hinweise geben. Iwanow verspürt schnell den Druck der Obrigkeit und muss bald schon fast gewaltsam an den Ermittlungen gehindert werden.

In den sepiafarben gestalteten Episoden vor dem verhängnisvollen Tag lernen wir die Wanderer kennen, die fast allesamt Freunde sind. Man scherzt gerne, freut sich auf das Abenteuer, und es herrscht weitgehend Harmonie. Nichts deutet im Vorfeld auf die Katastrophe hin. Bis heute sind zahlreiche Theorien über den Hergang der Tragödie entstanden, wobei keine davon alle Funde und Tatsachen logisch komplett abdecken kann. Von Aliens über geheime Militäraktionen und seltene Naturphänomen wurde alles ins Spiel gebracht. Dabei scheint eine einfache Erklärung zumindest zurzeit die wahrscheinlichste zu sein: eine (drohende) Lawine, die Panik auslöste. Im Dossier im Anhang kommen einige Experten und Wissenschaftler zu Wort. Das Rätsel wird in Gänze aber wahrscheinlich nie geklärt werden. Faszinierend.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Cédric Mayen (Autor), Jandro Gonzalez (Zeichner): Das Unglück am Djatlow-Pass • Aus dem Französischen von Anne Bergen • Splitter Verlag, Bielefeld 2024 • 104 Seiten • Hardcover • 25,00 Euro

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.