Es ist Spätsommer und für viele Schüler*innen beginnt das letzte Schuljahr. Eine Zeit, in der noch alles so ist, wie es immer war, aber die kommenden Veränderungen schon spürbar sind. Diese Zeit hat die Comiczeichnerin Michèle Fischels zum Stoff für ihr Comicdebüt „Outline“ gewählt.
Es ist unspektakulär, was Michèle Fischels in ihrem Comic erzählt. Da ist eine Schulklasse im letzten Jahr vor dem Abitur. Und ein paar Freunde aus dieser Klasse, die der Comic in Schlaglichtern durchs Jahr begleitet: wie sie abhängen, in einer Band spielen, auf Klassenfahrt gehen. Da ist zum Beispiel Andreas, der nebenbei als Kellner jobt und die dämlichen Sprüche der Gäste mit Gelassenheit pariert. Oder Ben, dem alles zuzufliegen scheint: die guten Noten ebenso wie die Herzen seiner Mitschülerinnen. Und da ist Clari, die Freundin von Ben, die irgendeine schwerwiegende Entscheidung mit sich herumträgt.
Tatsächlich ist diese unspektakuläre Erzählweise die Stärke des Comics. Denn so liegt der Fokus ganz auf den feinen Veränderungen, die dieses letzte Jahr bei den Jugendlichen auslöst. Da sind die coolen Sprüche der Teenager, die nahelegen, dass sie nichts aus der Fassung bringen kann. Andreas, der mit herablassender Miene beim Gespräch mit seiner Klassenlehrerin sitzt und „Trutsche“ denkt, als sie ihm nahelegt, sich besser auf die Prüfungen vorzubereiten. Und der dann plötzlich gar nicht mehr arrogant wirkt, als seine Lehrerin ihn fragt, wie es nach dem Abitur weitergehen soll.
Diese Frage wird noch einige in dem Comic aus der Fassung bringen. Und Michèle Fischels zeichnet die Haltlosigkeit, die sich immer wieder hinter der coolen Fassade zeigt, mit so feinem Strich, dass es berührt. Es ist ein skizzenhafter Strich, der einmal mehr verdeutlicht, wie sehr alles im Fluss ist. Und der zugleich die Emotionen der Protagonist*innen, die zwischen Kindsein und Erwachsensein schwanken, in all ihren Facetten präzise nachzeichnet.
Und dann baut Michèle Fischels immer wieder grafische Pausen ein: die Straßenbahn, die durch die Provinzstadt fährt, ist auf einer ganzen Doppelseite zu sehen – und vor allem ganz viel Himmel darüber, der zeigt, dass es so viel Luft nach oben gibt. Oder Naturzeichnungen, wie Herbstlaub oder flauschige Weidenkätzen – also Zeichnungen unterschiedlicher Jahreszeiten, die das einzig Verlässliche im Leben der Teenager zu sein scheinen.
Es ist ein Verdienst des Berliner Reprodukt Verlags, dass er Michèle Fischels entdeckt hat. Denn Fischels hat in Münster studiert – das ist keine der Hochschulen mit großer Comictradition. „Outline“ ist ihre grafisch wie erzählerisch beeindruckende Abschlussarbeit, die es trotz der alltäglichen Geschichte schafft, über 200 Seiten die Spannung zu halten. Das beeindruckt auch deshalb, weil Michèle Fischels bislang nur Kurzcomics veröffentlicht hat.
Den Titel „Outline“ hat Michèle Fischels gewählt, weil in dem Wort zum einen „Out“ – also draußen sein – steckt und zum anderen die Linie als Grenze zwischen dem Leben in der Schule und der beängstigenden Freiheit danach. In der deutschen Übersetzung bedeutet Outline so viel wie Skizze oder Entwurf und steht damit als Metapher für die Pläne fürs Leben, die noch so gar nicht vollendet sind und erst langsam Form annehmen. Da ist Clari, die zwar Pläne fürs Studium schmiedet, aber ganz unsicher ist, ob die wirklich gut sind, weil sie damit vermutlich ihren Freund Ben vor den Kopf stößt. Und da ist Ben, dessen bester Freund Andreas Abstand von ihm nimmt, weil er seine schwule Identität entdeckt, sodass Ben am Ende ganz allein da steht. Oder doch nicht?
Alles ist im Fluss – und das ist gut so. Das ist ein Fazit des Comics „Outline“, der die Zeit des letzten Schuljahrs so gut als Phase zwischen äußerem Stillstand und innerem Aufruhr charakterisiert, dass sich darin nicht nur Abiturient*innen wiederfinden können, sondern auch deren Eltern, die schon vergessen haben, wie fragil und verletzlich dieser Lebensabschnitt ist.
Dieser Beitrag erschien zuerst am 11.09.2024 auf: radio3 rbb
Michèle Fischels: Outline • Reprodukt, Berlin 2024 • 208 Seiten • Klappenbroschur • 24,00 Euro
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.