Guter Fisch, schlechter Fisch – „Der nasse Fisch“

Es ist völlig normal, dass aus mittelmäßigen oder belanglosen Romanen gute Filme werden können – oder eben Comics. Das ist bei Hitchcocks „Psycho“ so gewesen oder bei Jacques Tardis Adaptionen der Nestor-Burma-Romane von Léo Malet. Und jetzt eben im Fall von Arne Jyschs „Der nasse Fisch“ nach der Vorlage von Volker Kutscher. Das hat mit der Autorität und Autonomie der Bilder zu tun, die sich um die Qualität der Vorlagen-Prosa nicht zu scheren brauchen und durch ihre eigene Erzählstrategie eine neue Art von Konsistenz schaffen können. Übrig von der Vorlage bleiben dann ein paar Plot-Elemente und die Figuren, an deren kommunikatives Potential man anknüpfen kann. Oder mit anderen Worten: „Der nasse Fisch“ von Arne Jysch ist etwas anders als „Der nasse Fisch“ von Volker Kutscher, den man, so gesehen, als Marketing-Hilfe für den Comic verstehen kann.

Arne Jysch (Autor und Zeichner): „Der nasse Fisch (erweiterte Neuausgabe)“.
Carlsen, Hambug 2018. 224 Seiten. 17,99 Euro

Die etwas krause Geschichte vom Russen-Gold, das die Begehrlichkeiten von Schurken, Kommunisten und Nazis gleichermaßen weckt, von der Durchsetzung des Polizeiapparates durch alte Frontkämpfer, die den Nazis zuarbeiten, von der typische Berliner Verbrechensstruktur der Ringvereine, von mythologisch besetzte Figur des Kriminalrats Ernst Gennat und vom Außenseiter und Erzähler Gereon Rath, der vom Rhein an die Spree versetzt wird, gewinnt ihre Qualität durch die genaue zeitliche und örtliche Fixierung: Berlin, 1929.

Bilder, Bilder, Bilder …

Was man bei Kutschers Roman in jedem Wikipedia-Artikel nachlesen kann, konkretisiert sich in Jyschs Bilder: Meisterhafte Stadtansichten, Interieurs, Menschenporträts – „realistischer“ als Tardis Stilisierungen, aber Tardi deutlich verpflichtet, abstrakt verkürzt nur wenn es der Pointierung eines Handlungselementes dient, schaffen die Bilder die Atmosphäre, die wiederum auf unsere kollektiven Vorstellungen der Weimarer Republik zurückgreifen. Die Zeit ist schwarz/weiß, durch Filme und Fotografie. Und weil Jysch „realistisch“ bleiben will, unternimmt er, wie Tardi, eine bis in kleinste Detail stimmige Rekonstruktion der Zeit und lässt eine andere, bunte, schrille Tradition der polemischen Überzeichnung à la George Grosz und Co. außen vor. Natürlich haben russische Schläger und SA-Heinis Hackfressen, aber die erklären sich eher aus der Genre-Typologie, während der Oberschurke ein biederer preußischer Beamter ist und auch so aussieht. Und die berühmte „Dekadenz“ der Roaring Twenties kommt bei Jysch glücklicherweise eher moderat angedeutet anstatt dick ausgepinselt rüber. Nur in den Text rutschen hin und wieder kleine Anachronismen wie „Drogenkrieg“ oder das sehr heutige Wort „ausbaufähig“.

Auf der Bildebene beschreibt Jysch, konstatiert und rekonstruiert die Zeit. Und schreibt damit ihren Mythos fort – „M“, „Berlin, Alexanderplatz“ usw. und die aufkommende Neue Sachlichkeit sind seine Parameter. Auch damit erfährt Kutschers schlichte Vorlage eine erhebliche Komplexionsaufladung.

Die Story selbst hat Jysch skelettiert (und die Keime für Sequels gelegt, in case) und schlank und schnell erzählt – durch die geschmeidige, sehr filmische Panel-Aufteilung, gleitet der Erzählstrom eher wie geschmiert dahin. „Der nasse Fisch“ ist bemerkenswert „unexpressionistisch“ – und das ist in diesem Fall ein Kompliment.

Die Qualität der Konvention

Heißt aber auch: Traditionell. Denn Jysch verzichtet darauf, einer schon eher dicht auserzählten Epoche jetzt dringend neue Dimensionen abringen zu wollen – was angesichts der Bandbreite dessen, was es an einschlägigen Narrativen zu der Zeit in allem möglichen Medien schon gibt, vermutlich eher riskant gewesen wäre. Warum ausgerechnet Kutscher Romane so erfolgreich sind und auch noch wegen ihrer tollen Recherchen gelobt werden, habe ich angesichts des riesigen kulturellen Speichers, den die Weimarer Republik bietet und aus dem er sich unterkomplexe Häppchen herauspickt, nie verstanden – aber vielleicht ist es ja gerade die Unterkomplexität, die auf dem Unterboden des kulturellen Gedächtnisverlustes besonders gut gedeiht.

Jyschs Bilder versuchen mittels ihrer peniblen und sorgfältigen Rekonstruktion (sein Quellenverzeichnis nennt ein paar der relevanten Vorlagen) der Zeit und ihrer multimedialen Vermittlung, die in den Bildern und deren Arrangement stecken, zumindest ein ästhetisches Echo zu erzeugen. Deswegen ist „Der nasse Fisch“ als Comic dem Roman weit überlegen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 15.04.2017 auf: CulturMag

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.

Seite aus „Der nasse Fisch“ (Carlsen)