„Die emotionale Verbindung zur Schulzeit ist immer noch stark“

Es ist Spätsommer und für viele Schüler*innen beginnt das letzte Schuljahr. Eine Zeit, in der noch alles so ist, wie es immer war, aber die kommenden Veränderungen schon spürbar sind. Diese Zeit hat die Comiczeichnerin Michèle Fischels zum Stoff für ihr Comicdebüt „Outline“ gewählt. Andrea Heinze schreibt in ihrer Kritik: „(Der Comic charakterisiert) die Zeit des letzten Schuljahrs so gut als Phase zwischen äußerem Stillstand und innerem Aufruhr, dass sich darin nicht nur Abiturient*innen wiederfinden können, sondern auch deren Eltern, die schon vergessen haben, wie fragil und verletzlich dieser Lebensabschnitt ist.“ Im Presse-Interview spricht Michèle Fischels über ihr eindrucksvolles Debüt, das es in der aktuellen Comic-Bestenliste auf den dritten Platz geschafft hat.

Liebe Michèle, vielen Dank, dass du dir die Zeit nimmst, mit uns über dein kürzlich erschienenes Debüt „Outline“ zu sprechen. Als Comic-Newcomerin werden dich sicherlich die meisten unserer Leser*innen noch nicht kennen. Könntest du uns eingangs ein wenig über dich und deine Comic-Sozialisierung verraten? Wie bist du zum Zeichnen gekommen? Was hat dich am Comic und seinem narrativen Potenzial interessiert?

Die meisten Kinder malen ja viel, aber zum Spaß. Genauso habe ich das damals auch gemacht, habe zum Beispiel Sticker abgemalt, die ich schön fand, oder Katzen gemalt, die Abenteuer erleben. Jetzt weiß ich nicht, ob ich das so als „den Anfang“ bezeichnen kann, weil ich zwar immer das Krickeln mochte, aber es eben nicht mehr als das war – keine besondere Intention dahinter. Ich war auch in der Schule bzw. unter Gleichaltrigen nie das Kind mit dem Steckenpferd „kann gut zeichnen“, jedenfalls nicht bis zur Mittelstufe. Damals lag mein Fokus eigentlich auf dem Schreiben – ich wollte gern Schriftstellerin werden. Gerade frag ich mich, welcher Impuls zuerst kam, aber in der 7. Klasse hatte ich eine wirklich tolle Vertretungslehrerin in Kunst, die mir das Gefühl gab, Talent zum Malen und Zeichnen zu haben, weil sie meine Arbeiten (und generell viel) gelobt hat. Das hat meine Motivation für beides plötzlich extrem gesteigert. Und durch das Schreiben hat sich der Wunsch entwickelt, bebildern zu können, was ich mir ausdenke – vermutlich auch, um für das, was das geschriebene Wort nicht wiedergeben kann, einen Ausdruck zu finden.

Es hat danach noch total lange gedauert, bis ich vom Berufswunsch der klassischen Buchillustratorin und dem Schreiben als Privattätigkeit aufs Comicmachen gekommen bin. Und ich dachte auch eher, dass ich mich irgendwann für eins entscheiden müsste. Aber wenn ich jetzt auf diesen Dualismus meiner beiden Lieblingsbeschäftigungen zurückschaue, wirkt es fast wie eine Notwendigkeit, am Ende beim Comic herausgekommen zu sein, der das Schreiben und Illustrieren in sich vereint.

Du hast einen wunderbar leichten, trotzdem nie fahrigen Zeichenstrich, der mich sehr an den französischen Zeichner Cyril Pedrosa erinnert. Kannst du uns ein bisschen über deine Vorbilder – im Comic, aber auch anderen Kunstgattungen und Medien – und die Genese deines Stils erzählen? Wie wichtig sind Kolorierung und das Spiel mit Farben für dich?

Wow, das ist ein extrem schmeichelhafter Vergleich, ich freu mich sehr – zuma ich einige von Pedrosas Arbeiten auch in meiner Inspirationsgalerie gespeichert habe. Mein Einstieg in die Graphic-Novel-Welt erfolgte mit Bastien Vivès‘ Comic „Polina“ (und ein paar seiner anderen Werke). Auch Gipi hat, wie Vivès, diese Leichtigkeit im Strich, und Zeichner wie Mikaël Ross schaffen es wiederum, dieser Leichtigkeit noch so einen unglaublichen Humor hinzuzufügen.

Oft sind es vor allem diese locker hingeworfenen Zeichnungen, die mir Spaß machen. Deshalb folge ich auf Social Media einigen Concept Artists (von Disney, Pixar, aber auch kleineren Filmstudios), auf die ich wegen ihre wunderbaren Figurenentwürfe gestoßen bin. In den letzten Jahren habe ich intensiv Juliaon Roels‘ Skizzen studiert. Bei der MSD habe ich im Bewerbungsgespräch zum Bachelorstudium den Illustrator David Roberts genannt, den ich damals von seinen charmant skurrilen Schwarz-Weiß-Kinderbuchillustrationen kannte – man fühlt sich dabei auch an Edward Gorey erinnert. Vor meiner „Comicära“ war ich ja lange Jahre ausschließlich der Buchillustration verhaftet, liebe, alte Märchenillustrationen – sowohl die kitschigen als auch die zeitlos schönen von Kay Nielsen oder Iwan Bilibin.

Jetzt komme ich langsam zum Thema Farbe. Ich würde nicht einmal sagen, dass mir Farbgestaltung weniger bedeutet als der Strich, komme aber mit Blick auf meine Vorbilder immer wieder an den Punkt, dass ich beim ersten Eindruck vielleicht unbewusst mehr auf die Linienführung achte als auf die Kolorierung. Wen ich für letzteres sehr feiere, ist Jon Klassen. Aber sowohl bei ihm als auch bei Isabelle Arsenault ist beides, Linie und Farbe, ein perfektes Zusammenspiel, das ist alles sehr köstlich für die Augen.

Alle Künstler*innen, von denen ich mir gerne was abschaue, beherrschen vor allem das clevere Reduzieren; sie zeichnen subtil, dynamisch, mit Humor und auch mit Mut zum Weg- und So-stehen-lassen. Ich möchte meinen Strich mit Mühelosigkeit erzeugen, gleichzeitig Komplexes mit möglichst wenigen Linien einfangen und mir auf diese Weise spielerisch neue Sujets aneignen. Bis dahin ist noch sehr viel Übung nötig. Vermutlich bewundere ich Ballett so sehr, weil es da um etwas Ähnliches geht – man steckt eine unglaubliche Mühe und Arbeit hinein, damit alles am Ende leicht und mühelos aussieht.

„Outline“ erzählt von drei jungen Menschen kurz vor dem Abitur, Ben und Andreas, die als Heranwachsende beste Freunde waren, aber seit einiger Zeit zerstritten sind, und Clara, die mit Ben zusammen ist. Wie kamst du auf die Idee zu dem Band und warum wolltest du die Story als dein Abschlussprojekt umsetzen?

Offen gestanden: Das Treatment für „Outline“ war fertig, bevor ich meinen Master angetreten habe. Tatsächlich saß ich schon am Storyboard, also am Aufbau der Seiten und Skizzen, als das Studium anfing. Mit längeren und kürzeren Pausen hat diese Konzeptionsphase ein ganzes Jahr in Anspruch genommen, das ist für mich auch der anstrengendste Part, weil ich in keinem anderen Stadium desselben Comics wieder einer leeren Seite gegenübersitze und aus dem Nichts zeichnen muss. Als das geschafft war, ging es auch schon im Studium ans Überlegen, was das Abschlussprojekt sein könnte. Während ich mir bis dahin noch andere Optionen offengehalten hatte, war ich gedanklich zu diesem Zeitpunkt so tief von „Outline“ eingenommen, dass ich mich längerfristig auf nichts anderes konzentrieren wollte. Ich hätte „Outline“ in dieser Zeit so oder so gezeichnet – es wäre nur schwieriger geworden, wenn meine betreuenden Dozenten das Projekt nicht abgenickt hätten und ich zusätzlich noch etwas anderes als Abschlussarbeit hätte machen müssen. Ich wusste, dass eine so lange Geschichte für mich als langsame Zeichnerin zeitaufwändig werden würde. Der Master hat mir in der späteren Phase genau den Freiraum gegeben, den ich dafür brauchte – unter dem Schutzdach des Studiums ungestört an nichts anderem als meinem Projekt arbeiten zu können. Man kriegt ja im Studium auch noch den bedrohlichen Satz zu hören: „Du wirst in deinem Leben nie wieder so viel Freizeit haben wie jetzt.“ Schaurig.

Was „Outline“ so subtil wie bewegend einfängt, ist das diffuse, aber nicht unbedingt unangenehme Lebensgefühl von jungen Menschen kurz vor dem Ende ihrer Schullaufbahn, der Blick in eine ungewisse Zukunft, in dem sich Angst und Vorfreude überlappen. Für mich war die Lektüre wie eine Zeitreise und hat viele Erinnerungen an die eigene Abizeit geweckt. Als Masterprojekt entstand „Outline“ zu großen Teil auch in der Umbruchszeit zwischen Uni und Arbeitswelt – inwieweit haben diese Eindrücke deine Narration geprägt? Und was war dir wichtig in der Darstellung dieser besonderen Lebensphase?

Dieses zuweilen unbehagliche Gefühl, nach dem Abschluss so ein bisschen in ein schwarzes Loch des Unbekannten zu blicken, ist dem Uni- und dem Schulende gemein. Abgesehen davon habe ich für den Vibe wirklich aus den Gefühlen, Erinnerungen und der Wehmut der Schulzeit geschöpft. Erinnerungen, die mich manchmal völlig aus dem Nichts überfallen – vielleicht ausgelöst durch eine Lichtstimmung oder einen Geruch –, und die dann so lebendig und intensiv werden, dass es ehrlich gesagt schwer zu ertragen ist. Und auch, wenn „Outline“, was die Figuren und den Plot angeht, nichts Autobiografisches hat, ist die letzte Phase der Schulzeit eine, die ich für immer vermissen werde – zu der die emotionale Verbindung immer noch so stark ist, dass sich das wieder gut in etwas Kreativem verarbeiten lässt.

So wie ich die Skizze liebe, schaue ich jetzt auch auf die Schulzeit zurück, während der sich Zukunftsgedanken und -pläne als lose Ideen im Kopf entwickeln, aber noch Entwurf bleiben dürfen. Alle Möglichkeiten sind offen. Einerseits wird es nach dem Schulabschluss wohl oder übel Zeit, die erste große Entscheidung fürs Leben zu treffen, aber die Optionen breiten sich zugleich noch wie ein Kosmos aus.

Grundsätzlich war es mir wichtig, am Ende ein wenig diese gesellschaftliche Erwartung zu hinterfragen, nach der Schule konkrete Ideen fürs weitere Leben haben zu müssen. Das verhindert oft, dass diese vielen theoretisch vorhandenen Möglichkeiten mehr ausgenutzt werden und sich auf eine Trial-and-Error-Phase eingelassen wird, ehe man sich selbst gut genug kennt, um eine womöglich längerfristige Richtung einzuschlagen. Ich habe immer noch den Eindruck, es wird zu sehr erwartet, dass Jugendliche nach dem Schulabschluss fertige Menschen sind.

„Wie Ken und Barbie“, sagt Andreas über Ben und Clara. Die beiden sind das ins Klassengefüge perfekt integrierte Superpaar – Andreas ein Außenseiter, der nur vermeintlich selbstbewusst ist. Kannst du uns ein bisschen über deine drei Protagonist*innen und ihre Beziehungen untereinander erzählen? Welche Charakteraspekte waren dir bei den dreien am wichtigsten?

Die Figuren fingen seinerzeit eigentlich nur mit A, B & C an. „B & C sind zusammen, aber das gefällt A nicht.“ Ich war bei der Findung der Charaktere an einer Art kreativem Nullpunkt, wollte keine komplexe Handlung spinnen, sondern einfach eine simple klischeehafte Alltagsgeschichte erzählen, mit Figuren, die eher Konzepte sind.

Der ursprüngliche Dreh- und Angelpunkt war ja die (Kindheits)Freundschaft der Jungs. Da sind zwei Figuren, die fast polare Gegensätze zueinander bilden. Ich habe sie mir immer so vorgestellt, dass sie in ihrer Kindheit beide – auf unterschiedliche Weise – sozial unbeholfen waren. Das macht sie im Klassenverbund nicht unbedingt beliebt, aber in diesem Fall zu einem unzertrennlichen Duo, das seine eigene Sphäre an Interessen und Eigenarten teilt.

Also Ben, der Quirlige, Aufgedrehte und Andreas, der etwas Zurückhaltendere, Bedachtere. Ben hat diese sprühende Energie, diesen Tatendrang. Andreas hat wiederum die Nüchternheit, vielleicht auch Vernunft, die Ben runterbringt. Andreas‘ melancholisches Gemüt wird durch Bens enthusiastische Art aufgebrochen. Eigenschaften wie Nachdenklichkeit und das etwas kühle Temperament sind mit einem Konterpart wie Ben, den man sich als Kind eher hyperaktiv vorstellt, der ideale beidseitige Ausgleich.

Für „Outline“ habe ich das Gedankenexperiment fortgesetzt und mich gefragt, wie die beiden Persönlichkeiten getrennt voneinander sozial funktionieren – im Hinblick darauf, wie die Pubertät sie nach ihrem Bruch weiterformt. Ben ist ein Typ, der immer auf die Füße fällt. Der nie einen Plan hat oder richtig aufpasst, aber am Ende immer ungefähr an dem Punkt herauskommt, wo er irgendwann mal leichthin gesagt hat, dass er da hinmöchte. Er hat kein Problem, seine Gefühle zu zeigen. Seine hohe soziale Intelligenz ist ein Faktor, der ihm einen großen Freundeskreis beschert. Ich kannte mal jemanden mit dieser ungeheuren Fähigkeit, seinem Gegenüber immer ein gutes Gefühl zu geben von Wertschätzung und Sympathie, ohne dass dieser jemand sich hätte einschmeicheln oder dafür selbst herabsetzen müssen. Das ist für mich Bens Essenz.

Clara zu entwickeln war herausfordernd. Charakter C war erst mal wie ein Instrument, um Bewegung und Spannung in das Verhältnis von A & B zu bringen. Allein, weil ihr diese Rolle zukam und sie eine ewige Zweierfreundschaft aufgemischt hat, hatte Clara eine schwierige Startposition in puncto Sympathie. In „Outline“ kommt es da ganz wunderbar, sie nicht aus der gefärbten Sicht der Jungs, sondern autonom zeigen zu können. Bei Clara besteht der Balanceakt darin, jemanden zu porträtieren, der weiß, was er will, und sagt, was er denkt, ohne dass das diesen Beigeschmack von „zickig“ oder tyrannisch bekommt – das wird bei weiblichen Figuren im Gegensatz zu den männlichen ja immer noch gern negativ wahrgenommen. Sie ist lebhaft, neugierig, kommunikativ – was wiederum Eigenschaften sind, die sie mit Ben teilt. Clara hat mehr Ehrgeiz als Ben, ist organisierter, teilt wiederum aber seine Geselligkeit. Zusammen wirken sie vielleicht wie das Superpaar, weil Schulzeit viel aus dem sozialen Miteinander besteht und sie dabei punkten. In der Beziehung bietet Ben die Beständigkeit, Clara sucht nach dem Neuem, der Abwechslung. Ähnlich wie zuvor mit Andreas haben beide miteinander eine sich ergänzende Dynamik, aber wie zuvor ist hier fraglich, ob ihre unterschiedlichen Eigenschaften sie immer vereinen werden.

Andreas ist jemand, der es zu jedem Zeitpunkt theoretisch besser weiß, aber ständig gegen sich selbst verliert. Ihm fehlt für sein Gemüt der Ausgleich, den er vorher mit Ben hatte. Was er gern hätte, kann er nicht bekommen, und für diesen unlösbaren Konflikt sucht er ungesunde Ventile. Alle Figuren sind in unterschiedlich glücklichen Phasen ihres Lebens. Trotzdem wollte ich zeigen, dass sie sich entwickeln können – dass sie mehr sein können als die Archetypen, die sie auf den ersten Blick repräsentieren und als die sie angefangen haben.

„Outline“ ist ein seltenes Beispiel für einen Jugendcomic, der sowohl Jugendliche als auch Menschen jeden Alters, die über Jugendliche lesen wollen, ansprechen dürfte. Wie ist denn das bei dir, wenn du deine Szenarios schreibst – hast du ein bestimmtes Publikum im Kopf? Schreibst du für ein bestimmtes Alter?

Das klingt kurz mal brüsk, aber zuallererst schreibe ich für mich. Ich will das Projekt umsetzen, also muss es als Erstes mich begeistern und überzeugen. Dazu auch meine Überlegung, dass wir alle in gewisser Weise auch wieder nicht so einzigartig sind, wie wir gerne wäre. Daher klingt es unwahrscheinlich für mich, dass ich die einzige Person auf der Welt bin, die sich für genau diesen Stoff in dieser Aufbereitung interessiert. Soll heißen: Es gibt für alles, auch die abstrusesten Nischen, sowieso schon eine Zielgruppe. Ansonsten spielen bislang immer Kinder bzw. Jugendliche die Hauptrollen in meinen Geschichten. Wie bei „Outline“ würde ich aber nicht sagen, dass diese Personen die einzigen Adressat*innen sind. Pubertät, egal in welchem Genre eingebettet, ist einfach ein grundsätzlich spannendes, vielseitiges Thema, das wir ja alle auch selbst erleben oder erlebt haben.

Gibt es schon ein neues Projekt, an dem du sitzt? Darfst du uns schon ein bisschen darüber erzählen?

Bald findet eine internationale Online-Comicbuchmesse, die ShortBox Comics Fair, statt, für die ich einen Kurzcomic zeichnen durfte. Im Oktober werden auf der Seite der Messe über 150 Comics von Künstler*innen aus aller Welt für kleines Geld zu kaufen sein. Da sind wirklich nur starke Arbeiten dabei!

Mein Beitrag dort geht in die fantastische, märchenhafte Richtung und probiert auch stilistisch noch mal eine andere Abzweigung als „Outline“. Am liebsten würde ich mich gern in jeder Arbeit komplett neu erfinden können, und so wie es aussieht, bleibe ich in nächster Zeit auch erst mal beim Comic. Ich möchte mich gern um Auftragsarbeiten kümmern, aber peu à peu auch meine anderen Geschichten angehen, die umfangreicher sind und im Kopf schon ewig lang begleiten.

Michèle Fischels: Outline • Reprodukt, Berlin 2024 • 208 Seiten • Klappenbroschur • 24,00 Euro