Sinnfluencer und falsche Propheten – Liv Strömquists „Das Orakel spricht“

Weisen uns „Influencer*innen“ mit ihren Ratschlägen den Weg in ein besseres Leben? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter? Liv Strömquists neuer Sachcomic „Das Orakel spricht“.

Schauspielerin und Model Gwyneth Paltrow tut es ebenso wie einst der Promi-Astrologe Carroll Righter; auch der „Manosphere“-Blogger Rollo Tomassi, Meghan Markle („Herzogin von Sussex“) oder die Psychologin Nicole LePera können und werden es nicht lassen. Das Erteilen von Ratschlägen – ob in papierner Form als Ratgeberliteratur oder in den unendlichen virtuellen Spielwiesen der Blogger*innen und Influencer*innen – ist heutzutage ein weitverbreitetes Verhalten; und nicht zuletzt ist es auch ein solides Geschäftsmodell. Beschlagen mit Versatzstücken aus Kritischer Theorie, Kultursoziologie, Psychoanalyse und Dekonstruktion rückt die Sachcomicautorin Liv Strömquist dem umstrittenen Zeitgeistphänomen zu Leibe. In sieben Lektionen legt sie in „Das Orakel spricht“ dessen innere Paradoxien offen und dabei en passant die affirmativen ideologischen Grundlagen des Ratgebertums frei. Und zwar, dass …

(1.) das in spätkapitalistischen Gesellschaften zum Imperativ erhobene Streben nach einem glücklichen und erfüllenden Leben (Habe Spaß! Genieße dein Leben! Halte dich fit und gesund!) unerfüllbar ist, weil es letztlich ein permanentes, nie zu löschendes Gefühl der eigenen Mangelhaftigkeit wachhält und so ins private Unglück führt;

(2.) die in säkularisierten Gesellschaften grassierende Mode des Self Care eine Folge unserer unbewältigten Todesangst ist. Unbewältigt, weil über diese narzisstische Kränkung der eigenen Vergänglichkeit von keiner Religion mehr recht hinweggetröstet werden kann und wir stattdessen über die Optimierung von Fitness und Ernährung versuchen, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und das eigentlich Unvermeidliche so weit wie möglich hinauszuschieben. Allerdings ist der Erfolg dieser mit höchsten Anstrengungen und großen Entbehrungen verbundene Verlängerung des eigenen Lebens eher spekulativ und zweifelhaft und damit reine Zeitverschwendung;

(3.) die vorherrschende rationalistische Weltauffassung, einhergehend mit einem eher manipulativen Verhältnis zu den Dingen, dafür sorgt, dass man, anstatt sich die Welt verfügbar zu machen, ganz im Gegenteil sich der Welt tendenziell entzieht. Das gilt übrigens auch für die gesellschaftliche Tabuisierung negativer Gefühle, weil z. B. Wut, Enttäuschung und Schmerz immer Teil des Lebens sein werden und deren Nichtakzeptanz damit auch einen Teil der Lebenserfahrung leugnen muss;

(4.) das Erteilen von Ratschlägen weniger Empfänger*innen nützt als vielmehr den Ratgeber*innen. Denn abgesehen davon, dass der Rat meist trivial ausfällt und von zweifelhaftem Nutzen ist, ist das Rat-geben eher förderlich für das eigene Ego, während das Rat-nehmen tendenziell negativ auf das Selbstbewusstsein wirkt;

(5.) psychotherapeutische Narrative in ihrer Obsession für traumatische Lebenserfahrungen psychisches Leiden oft überhaupt erst hervorbringen, um es dann endlich „heilen“ zu können;

(6.) die Ratgeberkultur die individuellen Möglichkeiten der Lebensgestaltung maßlos überhöht, während die äußeren Einflussvariablen (Gesellschaft, Biologie, Zufall) so weit wie möglich heruntergespielt werden;

(7.) als Folge gesellschaftlicher Individualisierungs- und Beschleunigungsprozesse der einzelne Mensch zunehmend in die äußerst unkomfortable Situation gebracht wird, Nichtplanbares einplanen und Unentscheidbares entscheiden zu müssen. Tut er es (also das Unmögliche) nicht, so weit so neoliberal, ist er für sein Scheitern selbst verantwortlich.

Mit viel Humor, zahlreichen didaktisch motivierten Visualisierungen und dem geschicktem Einsatz comicaler Darstellungsmöglichkeiten (bspw. indem die Autorin die stumpfsinnigen Wiederholungsformeln der Influencer*innen in redundanten Panelfolgen bloßstellt) bereichert die gelernte Politologin Liv Strömquist das auch nicht mehr so ganz taufrische Genre der „Antiratgeberliteratur“ um einen Comic, der zugänglicher und verständlicher daherkommen dürfte als die klassischen ratgeberkritischen Schriften akademischer Koryphäen wie Eva Illouz, Slavoj Zizek oder Zygmunt Baumann. Meiner Meinung nach das bislang beste Buch der Autorin.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 30.12.2024 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Liv Strömquist: Das Orakel spricht • Aus dem Schwedischen von Katharina Erben • Avant-Verlag, Berlin 2024 • 248 Seiten • Softcover • 25,00 Euro

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.