„Wir sind alle Nebenfiguren in einer großen Geschichte“

2019 erschien Bea Davies‘ Graphic Novel „Der König der Vagabunden – Gregor Gog und seine Bruderschaft“ (Avant-Verlag), in der sie zusammen mit dem Berliner Journalisten Patrick Spät die Lebensgeschichte des Anarchisten und Syndikalisten Gregor Gog (1891-1945), der in der Weimarer Republik ein Sprachrohr für wohnungs- und arbeitslose Menschen war, rekapituliert. Zuvor hatte sie für das inzwischen eingestellte Berliner Magazin „Straßenfeger“ Comic-Reportagen über das Thema Obdachlosigkeit gezeichnet und sich in der Notunterkunft des „Straßenfegers“ engagiert.

Mit „Super-GAU“ ist nun Davies‘ großes Autorinnendebüt erschienen. Und auch in ihrem Einstand als Szenaristin spielen die Themen Wohnungslosigkeit und soziale Not eine tragende Rolle. „Super-GAU“ spielt am Vorabend der Fukushima-Katastrophe vom 11. März 2011, deren klimapolitische und gesellschaftliche Folgen nicht nur in Japan zu spüren waren. Bea Davies lässt ihre Geschichte aber nicht in Japan, sondern in Berlin spielen – sie erzählt von acht Menschen, deren Lebenslinien sich in und als Folge der Fukushima-Krise überkreuzen. Große Teile der Handlung siedelt die Autorin in der sozialen Unterschicht Berlins an, in Notunterkünften, unter Brücken und in Kreuzberger Sozialwohnungen. Im Presse-Interview spricht Davies über die Hintergründe ihres neuen Comics.

Liebe Beatrice, du bist schon seit etlichen Jahren als Illustratorin in der deutschen Comicszene unterwegs, mit „Super-GAU“ stellst du dich aber zum ersten Mal einer größeren Leser*innenschaft als Zeichnerin und Autorin vor. Willst du uns zu Beginn ein bisschen über dich verraten?

Meine Biografie ist etwas kompliziert. Meine Mutter ist Italienerin, aber mein Vater hat koreanische/hawaiianische Wurzeln. Ich bin in Italien geboren, aber kurz nach meiner Geburt sind wir nach New York gezogen, wo sich meine Eltern kennengelernt hatten. Zwei Jahre später sind wir nach Seoul in Südkorea gezogen. Nach weiteren zwei Jahren kehrten wir nach Acquapendente zurück, dem italienischen Dorf, in dem ich geboren wurde. Wir flogen wie Tennisbälle durch die Welt, und man könnte meinen, dass ein Kind froh ist, endlich einen festen Wohnsitz zu haben. Aber ich habe mich in dem Dorf in Italien nie richtig zugehörig gefühlt und wollte schon als Kind eines Tages nach New York ziehen, um dort zu studieren. Es ist ein Wunder, dass es tatsächlich geklappt hat. Mit 20 Jahren bekam ich ein Stipendium an einer der renommiertesten Kunstakademien der USA. Dann nahm das Schicksal eine Wendung, und ich wurde schwanger. Mir wurde klar, dass ich niemals ein Kind in New York großziehen wollte, und wir zogen mit dem Papa nach Italien, aber das war nur eine Zwischenstation. Ein halbes Jahr nach der Geburt entschieden wir uns für Berlin. Zeichnen war schon immer eine meiner bevorzugten Ausdrucksformen. Als Kind habe ich sehr gerne Comics gelesen, und als Teenager habe ich in meiner Freizeit Fantasy-Figuren und Kreaturen gezeichnet sowie kleine Comicstrips usw. Als Schülerin habe ich das Zeichnen von Comics aber nie als Berufswahl in Betracht gezogen, das kam erst später.

Gab es Künstler*innen, die dich in deiner Entwicklung als Zeichnerin und Erzählerin beeinflusst haben? Zu welchen Kreativen blickst du heute auf und lässt dich inspirieren?

Generell habe ich in meiner Kindheit und Jugend sehr viel Unterschiedliches gelesen. Ich war eine begeisterte Fantasy-Leserin, habe alle Bücher von „Der Herr der Ringe“ viermal gelesen und ansonsten fast alles von Tolkien. Ich gehöre auch zu der Generation, die „Harry Potter“ gelesen und sehnsüchtig aus dem Fenster geschaut hat, in der Hoffnung, eine Eule mit einem roten Brief zu sehen. Irgendwann als Teenager habe ich angefangen, Romane von japanischen Autor*innen zu lesen: Banana Yoshimoto, Mishima, Murakami. Mangas habe ich kaum gelesen, aber ich habe die Anime-Meisterwerke von Regisseuren wie Satoshi Kon, Miyazaki, Otomo verschlungen. Bei den Comics haben mich die Franzosen wie Moebius und Bilal inspiriert. Ich habe auch viele italienische Comiczeichner gelesen: Andrea Pazienza, Sergio Toppi, Hugo Pratt. Aber heute bevorzuge ich zeitgenössische Zeichner, zum Beispiel Gipi, Charles Burns, Craig Thompson, Jiro Taniguchi. Ich bewundere auch sehr die Arbeit von deutschen Kolleg*innen wie Mikael Ross, Sascha Hommer, Maki Shimizu, um nur ein paar zu nennen.

Du bist 2012 nach Deutschland gekommen und lebst seither mit deiner Familie in Berlin. Wie war das für dich als junge Künstlerin, in einer neuen Szene Fuß zu faßen?

Ich bin 2012 nach Berlin gekommen, ohne die Stadt vorher besucht zu haben, ohne die Sprache zu können, mit einem sieben Monate alten Baby, sehr wenig Geld und viel Zuversicht. Wir hatten von Italien aus eine Wohnung im Bergmannkiez gefunden. Erst später habe ich begriffen, was für ein Glück wir hatten, denn schon 2012 war es nicht einfach, eine Wohnung zu finden, aber das war mir damals noch nicht klar. Auch einen Job zu finden war nicht einfach. Ich hatte wenig Erfahrung und keinen Abschluss. Mein erster Job war Kellnerin, und ich war schrecklich. Mein Chef hat mich schnell gefeuert, allerdings bat er mir an, eine Ausstellung bei ihm im Restaurant zu machen.

Obwohl die Umstände nicht die besten waren, habe ich nie aufgehört daran zu glauben, dass ich es eines Tages schaffen würde, Künstlerin zu werden. Welche Art von Kunst ich machen wollte, wusste ich allerdings noch nicht. Zuerst kam ich in Kontakt mit der Graffiti-Szene in Berlin, die sehr offen und freundlich war. So sind auch die ersten Ausstellungen entstanden. Dann lernte ich die Gruppe der Comickünstler*innen des BÉTON-Zines kennen, das von Stéphane Hirlemann und Laetitia Graffart organisiert wurde, und zeichnete dafür kurze Comics. Gleichzeitig entwickelte ich mein erstes Comic-Langzeitprojekt, den Webcomic über meinen Sohn Samu, in dem ich regelmäßig Einblicke in unser Leben zeichnete und der 2020 unter dem Titel “A Child’d Journey” im Jaja Verlag erschien.

2015 bewarb ich mich mit einer sehr comiclastigen Mappe um einen Studienplatz an der Weißensee Kunsthochschule Berlin und wurde angenommen. Ein Jahr später gewann ich den Preis der Comic Invasion: ein Mentoring von Mawil. Im Rahmen dieses Mentorings begann ich mit der Obdachlosenzeitung „Straßenfeger“ zusammenzuarbeiten und zeichnete für jede Ausgabe einen Comic für die Rückseite. Kurze Zeit später wurde der Autor Patrick Spät auf diese Comics aufmerksam und kontaktierte mich mit einem Projektvorschlag.

2019 ist deine erste große Graphic Novel im Avant-Verlag erschienen, „Der König der Vagabunden“. Wie in „Super-GAU“ spielen auch darin Teile des Plots in Berlin, allerdings in einem historischen Setting. Das Buch erzählt von Gregor Gog, einem Obdachlosen-Aktivisten und Gründer der ersten Straßenzeitung Europas, und spielt Anfang des 20. Jahrhunderts. Was hat dich an diesem Projekt und Thema interessiert? Wie war es für dich als Neu-Berlinerin die Stadt aus dieser historischen Perspektive kennenzulernen?

Nach vier, fünf Jahren in dieser Stadt war ich keine richtige „Neuberlinerin“ mehr. Die Phase des Erkundens und Kennenlernens war vorbei, und es begann die Phase des Hinterfragens. Warum gibt es hier so viele Obdachlose? Warum sehen so viele Menschen so fertig aus? Was ist ihre Geschichte? Was erleben sie jeden Tag? In der Zusammenarbeit mit Patrick Spät habe ich gelernt, dass Obdachlosigkeit in Deutschland eine lange Geschichte hat. Nur in den 30er Jahren hatten die Vagabunden und Obdachlosen politische Aktivist*innen auf ihrer Seite. Heute gibt es zwar viele ehrenamtliche Vereine, aber keine starke politische Stimme, die sich für sie einsetzt. Deshalb war es für mich inspirierend, mich mit den politischen Bewegungen der Weimarer Republik zu beschäftigen.

Das Thema Wohnungslosigkeit in Berlin spielt nun auch in deiner ersten großen eigenen Graphic Novel „Super-GAU“ eine entscheidende Rolle. Du engagierst dich schon lange für soziale Belange, hast Comics für das Berliner Wohnungslosen-Magazin „Straßenfeger“ gezeichnet und hast ehrenamtlich in einer Berliner Notunterkunft gearbeitet. Wie hat diese Zeit deinen Blick auf soziale und zwischenmenschliche Fragen geschärft? Und auf welche Art sind deine persönlichen Erfahrungen in deinen Comic eingeflossen?

Meine Zeit in der Notunterkunft des „Straßenfegers“ war für mich eine prägende Erfahrung, die viel Stoff für “Super-GAU” geliefert hat. In dieser Zeit als ehrenamtliche Mitarbeiterin kam ich mit sehr vielen Gästen der Unterkunft ins Gespräch und lernte sie und ihre Geschichten kennen. Auf die Frage, was Menschen in die Obdachlosigkeit treibt, gibt es so viele Antworten wie Obdachlose selbst. Man muss sich vorstellen, wie extrem unterschiedlich die Schicksale sind, und doch suchten alle diese Menschen bei uns vor allem eines: einen sicheren Ort, an dem sie warmes Essen, ein frisch bezogenes Bett und die Möglichkeit zu duschen bekommen. Da so viele unterschiedliche Menschen auf relativ kleinem Raum zusammenkamen, war unsere Arbeit auch eine der Mediation, der Deeskalation und der Prävention, nicht nur der Fürsorge. Wir mussten für das Wohlbefinden und die Sicherheit aller Gäste sorgen, uns aber auch stark für die Einhaltung der Regeln einsetzen. Das war manchmal sehr schwierig. Lea, eine der Figuren in der Graphic Novel, macht bei ihrer Arbeit die gleichen Erfahrungen wie ich in der Notunterkunft. Radoslav, den geheimnisvollen Jungen aus dem Comic, habe ich übrigens wirklich kennengelernt.

Erzähl uns doch ein wenig mehr über die Entstehungsgeschichte des Comics. Es wirkt nämlich so an, als wolltest du es dir für dein Autorinnen-Debüt selbst so schwierig wie möglich machen: „Super-GAU“ ist ein Ensemblestück, für das zahlreiche Figuren kreiert und mit Leben gefüllt werden mussten. Das Buch ist kontemporär und historisch zugleich – es spielt 2011 –, du musstest also auf zeitbedingte Details achten. Und es ist ein Puzzle, bei dem viele Figuren und Plots ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sein müssen.

Ja, ich musste mich oft fragen, warum ich es mir bei meinem ersten selbstständigen Werk so schwer gemacht habe. Aber ich kann die Entscheidung, eine Geschichte aus mehreren Perspektiven zu erzählen, auf eine ganz bestimmte Erkenntnis zurückführen: Als “Der König der Vagabunden” erschien, fiel mir auf, dass wir dort das Leben von Gregor Gog, unserem Protagonisten, erzählen und seine Mitstreiter*innen und Freunde als Nebenfiguren darstellen. Die Rolle, die diese Nebenfiguren in Gogs Biografie spielen, ist aber enorm wichtig. Ohne sie wäre Gog nicht die Person geworden, die er war. Dann musste ich die Frage an mich selbst richten. Welche Rolle spielen die Menschen, denen ich jeden Tag begegne, in meinem Leben? Welchen Einfluss haben die „Nebenfiguren“ und „Komparsen“ meines Lebens auf mich und meine Entscheidungen? Dann musste ich die Frage nur noch relativieren, und schon stand das Konzept von “Super-GAU” vor meinen Augen: Wir sind schließlich alle „Nebenfiguren“ in einer großen, komplexen Geschichte.

Der Titel „Super-GAU” spielt auf die Fukushima-Katastrophe an, die für die vielen Storys in deinem Comic mal größere, mal kleinere Bedeutungen hat und als ein Bookend die Geschichte einrahmt. Magst du ein bisschen auf das Fukushima-Unglück, seine Bedeutung für dich und für deine Erzählung eingehen?

„Super-GAU” ist weder ein Buch über die Katastrophe von Fukushima noch über Berlin, sondern ein Buch, das dazu einlädt, darüber nachzudenken, wie wir mit den Menschen um uns herum umgehen. Was tun wir? Wie verhalten wir uns? Welchen Einfluss haben wir aufeinander? In der Notunterkunft habe ich erlebt, wie sich Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien aus der Not heraus verbündet und unterstützt haben. Leider habe ich aber auch erlebt, wie einige aufeinander losgingen und sich prügelten. Dabei habe ich mich gefragt: Trennt uns das Schicksal oder verbindet es uns? Um diese Frage zu beantworten, musste ich mich von alltäglichen Anlässen distanzieren. Ich suchte nach einem extremen Beispiel von Unglück, etwas Unvorstellbarem. Und ich musste nicht lange suchen, denn mir fiel sofort die dreifache Katastrophe von Fukushima ein. Ich stellte das Katastrophenszenario neben das Berliner Alltagsszenario, und aus diesem Kontrast entstand „Super-GAU“.

Kannst du uns etwas über deine Figuren erzählen? Welche sind dir am nächsten, welche haben dich vor die größten Herausforderungen gestellt?

Lea ist 18 Jahre alt, lebt mit ihrem Großvater am Kottbusser Tor und arbeitet in einer Notunterkunft für Obdachlose. Nacho ist Schriftsteller, von der Realität und der Gesellschaft überfordert und lebt isoliert in einer sehr unordentlichen Altbauwohnung in der Nähe des Kotti. Diese beiden Figuren sind mir am leichtesten gefallen, weil sie mir am nächsten stehen. Aber alle Figuren basieren auf realen Personen, die ich mehr oder weniger gut kenne. Die Herausforderung bestand vor allem darin, ihre Schicksale in eine fiktive, aber glaubwürdige Geschichte zu verweben.

Apropos Herausforderungen: Wie war das für dich als Illustratorin in die Szenaristinnen-Rolle zu wechseln? Wie bist du diesen Part angegangen und welche Rolle spielte dein Lektor Jean-Baptiste Coursaud bei der Entstehung der Geschichte? Wie war eure Zusammenarbeit?

Ich habe 2019 mit diesem Projekt begonnen, und es gab viele Versionen von „Super-GAU“. Viele verworfene Szenen, unzählige Änderungen. Die geschriebene Sprache fiel mir nicht leicht, meine Deutschkenntnisse sind begrenzt, deshalb musste ich die Szenen ziemlich schnell visualisieren. Oft entstand das Storyboard vor den Dialogen. Die professionelle Unterstützung durch den Lektor Jean-Baptiste Coursaud war für die Dramaturgie sehr wertvoll. Er hat viele Aspekte der Geschichte infrage gestellt, immer mit einer konstruktiven Haltung. Viele Ideen sind in unseren Gesprächen entstanden. Ich habe mich nie gezwungen gefühlt, Änderungen an der Geschichte vorzunehmen. Jede neue Szene, die aus dieser Zusammenarbeit entstanden ist, hat ihren berechtigten Platz in der Graphic Novel.

Und zum Schluss: Es ist so ein Klischee zu sagen, eine Stadt spiele so eine wichtige Rolle für eine Geschichte, dass sie zu einem eigenständigen Charakter werde, aber ich finde, bei „Super-GAU“ trifft das durchaus zu. Was war dir in der Darstellung von Berlin und der Vermittlung des Ortes als Setting für all die Schicksale wichtig?

Berlin ist zweifellos eine ganz besondere Stadt. Ich finde es unglaublich, wie viele verschiedene Realitäten sich hier nebeneinander entwickeln, und diese dichte Vielfalt, die Haut an Haut existiert, ist für mich persönlich der größte Schatz Berlins. Diesen Aspekt der Stadt findet man in vielen Bezirken, aber am Kotti ist er vielleicht am deutlichsten zu sehen.

Hast du schon dein nächstes Projekt im Sinne?

Ich versuche, ein neues großes Projekt in Angriff zu nehmen. Ich möchte drei Biografien nebeneinander stellen: die meiner koreanischen Großmutter, die meines Vaters und meine eigene. Mein aktueller Fokus liegt auf intergenerationellen Traumata. Dabei geht es vor allem um die Frage, welchen Einfluss Krieg (in diesem Fall der Koreakrieg) und die dabei entstandenen Erfahrungen auf die Psyche der direkt Betroffenen haben und wie das auch die nachfolgenden Generationen stark prägen kann. Ich stehe aber noch ganz am Anfang und werde mich lange mit diesem Thema beschäftigen.

Bea Davies: Super-GAU • Carlsen, Hamburg 2025 • 208 Seiten, Hardcover • 26 Euro