1904 fanden die Olympischen Spiele im US-amerikanischen St. Louis statt. Besonders der Marathonlauf erwies sich als organisatorische Katastrophe unter widrigsten Bedingungen. José Luis Munuera und Kid Toussiant blicken in „Das Rennen des Jahrhunderts“ nicht ohne Humor auf das lebensgefährliche Fiasko zurück.
Man kennt vielleicht die Anekdote, die anlässlich der Olympischen Sommerspiele alle vier Jahre gerne aus der Schublade gekramt wird. Nämlich dass 1904, bei der dritten Auflage der Neuzeit-Olympiade in St. Louis, ein Marathonläufer, sogar der vermeintliche Sieger, einen Teil der Strecke mit einem Automobil gefahren ist und nur durch Zufall der Betrug entdeckt wurde. Die Geschichte stimmt tatsächlich. Aber während des besagten Marathonlaufs geschah noch so viel mehr Bemerkenswertes und in der Sportgeschichte Einzigartiges, dass Autor Kid Toussaint und Zeichner José Luis Munuera damit problemlos ein 96-seitiges Album füllen konnten, das nun auf Deutsch im Splitter Verlag erschienen ist.
Viele der Geschehnisse rund um den Lauf sind heute, über 120 Jahre später, noch überliefert und als Fakten gesichert. Die meisten davon finden Einzug in diesen Band. Aber auch unbelegte Anekdoten, die sich um die Veranstaltung ranken, greifen Toussaint und Munuera auf. Und dichten noch Einiges dazu, was sie nicht verhehlen. Das Besondere an dem Rennen waren in erster Linie die widrigen Bedingungen, die ganz bewusst von den Organisatoren in Kauf genommen wurden, allen voran James E. Sullivan, dem Direktor dieser Olympischen Spiele.
Der wollte die Überlegenheit der „weißen Rasse“ beweisen und außerdem in einem Feldversuch beobachten, wie sich Dehydrierung auf den Körper auswirkt: Also startete man nachmittags um 15 Uhr, als es am heißesten (32 Grad) und feuchtesten war. Die gesamte Streckenmarkierung war ungenügend. Die Route enthielt diverse Steigungen. Die Straßen waren extrem staubig und erschwerten das Atmen zusätzlich. Und als Krönung: Es gab nur eine Verpflegungsstelle mit Wasser. All dies führte dazu, dass von den 32 Startern nur 14 ins Ziel kamen und der Sieger fast 30 Minuten länger brauchte, als damals üblich war. Überdies wurde Gewinner Thomas Hicks während des Rennens „gedopt“, und zwar mit Rattengift und Alkohol.

Wie setzen Kid Toussiant („Holly Ann“, „Elle(s)“) und José Luis Munuera („Spirou“, „Bartleby, der Schreiber“, „Eine Weihnachtsgeschichte“) all das nun um? Anfangs werden einige der Teilnehmer in kurzen Episoden vorgestellt: Der Kubaner und rasende Postbote Andarín Carvajal, der nicht mal Laufschuhe hat. Thomas Hicks, der Mann, der nie mehr Zweiter sein wollte, es aber fast immer wurde. Bis auf diesen Marathonlauf. Len Taunyane und Jan Mashiani, ehemalige Soldaten im Burenkrieg und die ersten schwarzen Olympiateilnehmer aus Afrika. Beide laufen barfuß. Frederick Lorz, ein Schürzenjäger und der spätere Betrüger mit dem Auto.
Dann geht es ans Rennen, in dem sich die Ereignisse überschlagen, die die Läufer immer wieder ablenken. Ob ein Bahnübergang, eine beinahe fatale Begegnung mit rassistischen Hillbillys, Hunde, Autos oder einfach nur der Hunger – heute erscheint das Rennen und dessen Verlauf nicht nur kurios, sondern auch amateurhaft. Was bestens unterhält und die Doku-Thematik stets auflockert: Die beiden Künstler setzen das Geschehen und die Protagonisten mit einem leisen, bisweilen ironischen humorigen Unterton in Szene, was hervorragend zu den leicht stilisierten, eben typischen Munuera-Figuren passt.
Auch zu erwähnen ist die Farbgebung von Sedyas (d. i. Sergio Román), dem Stammkoloristen Munueras, der hier hauptsächlich mit Erdfarben und Brauntönen arbeitet und damit ein stimmiges Gesamtbild schafft, das immer wieder an zeitgenössische Fotos oder Filmaufnahmen denken lässt. Ein ausführlicher Anhang mit einigen Artikeln und Original-Fotos über den Lauf und dessen Teilnehmer bietet einen weiteren Blick hinter die Kulissen dieses einmaligen olympischen Kuriosums.
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Kid Toussiant (Autor), José Luis Munuera (Zeichner): Das Rennen des Jahrhunderts • Aus dem Französischen von Harald Sachse • Splitter Verlag, Bielefeld 2025 • Hardcover • 96 Seiten • 25 Euro
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

