Wie ist ein normales Leben möglich angesichts eines Nachbarn, mit dem man sich seit über 70 Jahren formell im Kriegszustand befindet? Keum Suk Gendry-Kim liefert mit „Mein Freund Kim Jong-un“ einen aufschlussreichen Querschnitt aus Politbiografie, Mentalitätsgeschichte und psychoanalytischer Sitzung.
In unserer schnelllebigen Konsumgesellschaft, die auch den schnellen Konsum von Medien inkludiert, taucht Nordkorea meist nur kurzzeitig in den Schlagzeilen auf, wenn das Regime in Pjöngjang wieder einmal einen Raketentest durchführt, es zu Zwischenfällen an der Grenze zu Südkorea kommt oder Personen die Flucht aus dem abgeschotteten Land gelingt. Für Außenstehende am anderen Ende der Welt lassen sich sowohl die vielen Einzelschicksale und Dramen tausender entlang des 38. Breitengrads zerrissener Familien als auch die mit den Treffen zwischen Kim Jong-un und Donald Trump 2018/19 verbundenen Erwartungen auf der Halbinsel schwer nachvollziehen.
Hier zeigt sich die unterschiedliche Wahrnehmung: Während das zwischenzeitliche politische Tauwetter nicht zuletzt für europäische Beobachter den Anschein einer weiteren Inszenierung des „stable genius“ im Weißen Haus erweckte (was sich mit Blick auf die mageren Resultate letztlich bestätigte), hofften viele Menschen in Nord- und Südkorea tatsächlich auf ein neues Kapitel in der Geschichte eines geteilten Landes, dessen zwei Hälften sich seit dem Waffenstillstand 1953 immer weiter auseinanderentwickeln. Obwohl nur einen Steinwurf (oder im schlimmsten Fall einen Artillerieschlag) entfernt, sind sich viele Koreanerinnen und Koreaner aus Nord und Süd mittlerweile fremd geworden.

Mit diesem Gefühl muss sich auch Keum Suk Gendry-Kim auseinandersetzen, die ganz nahe der Grenze zur sogenannten Demokratischen Volksrepublik Korea lebt. Ihr kürzlich im avant-verlag in deutscher Übersetzung erschienenes Werk „Mein Freund Kim Jong-un“ könnte manche aufgrund seines Titels zur Annahme verleiteten, dass es einen ähnlich intimen Ansatz verfolgt wie John Backderfs „Mein Freund Dahmer“, in dem dieser die Schulbekanntschaft mit besagtem Serienmörder verarbeitet. Tatsächlich ist das hier nicht der Fall, wenngleich mehrere Personen aus dem engeren Umfeld des seit dem Tod seines Vates Kim Jong-Il 2011 regierenden Kim Jong-un der Comic-Künstlerin Auskunft über ihre Erfahrungen und Ansichten erteilten (wobei es in der Biografie von Keum Suk Gendry-Kim diesbezüglich ironischerweise eine ganz eigene Spiegelung der „Schweizer Jahre“ des jetzigen Diktators gibt).
Obwohl natürlich viele markante Ereignisse und Bilder, die sich ins Gedächtnis gebrannt haben, zur Sprache kommen, steht primär der „Blick von unten“, die Perspektive einfacher Menschen, im Vordergrund: Wie lebt es sich in Südkorea angesichts der jederzeit möglichen atomaren Vernichtung durch das Regime im Norden? Was unterscheidet die Menschen und ihre Mentalität jenseits der stark bewachten Grenze, was haben sie trotz aller Unterschiede gemeinsam? Warum schaut einem Überläufer selbst nach 20 Jahren immer noch der südkoreanische Geheimdienst auf die Finger? Sich selbst nimmt die Schöpferin, deren Alltag von ohrenbetäubenden Artillerieübungen in unmittelbarer Nähe geprägt ist, ebenfalls nicht von der Betrachtung aus. Ein aufschlussreicher Querschnitt aus Politbiografie, Mentalitätsgeschichte und psychoanalytischer Sitzung, bei der gewissenermaßen ein ganzes (zweigeteiltes) Volk auf der Couch Platz nimmt.
Dieser Beitrag erschien zuerst im: SLAM Magazine
Keum Suk Gendry-Kim: Mein Freund Kim Jong-un • Aus dem Koreanischen von Alexandra Dickmann • Avant-Verlag, Berlin 2025 • 288 Seiten • Hardover • 32,00 Euro
Andreas Grabenschweiger lebt in Wien und ist für sämtliche Publikationen des SLAM Media Verlags (SLAM Alternative Music Magazine sowie die Sonderheftreihen ROCK CLASSICS und POP CLASSICS) als Redakteur und Lektor tätig.

