Im emotionalen Niemandsland – „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“

Dass die Menschen im Klammergriff von Flexibilisierung und Mobilität auch in ihrer Konstellation als Liebespaare jederzeit von der Entfremdung eingeholt zu werden drohen, mag kein besonders origineller Befund mehr sein. Trotzdem begibt sich der italienische und nach Zwischenstationen in Berlin und Norwegen nun in Paris lebende Comiczeichner Manuele Fior in seiner vierten Buchveröffentlichung an die Chronik einer Beziehung und mit ihr an all die äußeren wie inneren Hürden, die das Versprechen auf Glück zur ungewollten Tortur derangieren.

Zwar spielt das Thema Liebe in sämtlichen Werken Fiors eine gewisse Rolle, in der 2011 beim Comicfestival von Angoulême mit dem Preis für das beste Album ausgezeichneten Graphic Novel „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“ jedoch wächst es zum strukturierenden Element. Viel Gutes weiß Fior der Liebe nicht zu bescheinigen. Bereits der Titel spricht von der Distanz, die die beiden Hauptfiguren Lucia und Piero räumlich trennt und von ihnen auch nicht mental überwunden werden kann. Fünftausend Kilometer liegen zwischen Oslo, wo Lucia ein Auslandssemester antritt, und Kairo, dem Ort von Pieros neuem Arbeitsplatz als assistierender Archäologe. Fünftausend Kilometer und eine Sekunde Zeitverzögerung, die beim behutsamen Telefongespräch ihre Trennung auch zeitlich zementiert. Zu diesem Zeitpunkt sind die zwei bereits kein Paar mehr, aber zumindest Pieros erotische Fieberträume zeugen von immensen Qualen, die sich kaum verarbeiten lassen.

Der narrative Clou besteht nun darin, dass Fior all jene bereits tausendfach kolportierten Elemente, die das Idyll und die Intensität einer jungen Liebe besingen, ausspart. Stattdessen werden in sechs Kapiteln und einem kurzen Epilog die Nachwehen arrangiert, Situationen, denen folgenschwere Entscheidungen vorausgingen, sodass die Liebe selbst zur Leerstelle gerät, die schmerzhafte Konsequenzen erzeugt. Dabei beginnt alles so leichtfüßig wie im französischen Kino: In grün-gelben Wasserfarben und schwüler Atmosphäre beobachtet der schüchterne Piero zusammen mit seinem ruppigen Freund Nicola die neuen Mieter beim Einzug ins Nachbarhaus gegenüber. Aus Langeweile wird Interesse, als sie unter den Neuankömmlingen Lucia erspähen.

Nur wenige Tage und ein paar aufmunternde Jungsgespräche später jubelt Piero auf dem Mofa seinem ersten Date entgegen. Es folgt jedoch kein adoleszenter Liebestaumel, sondern jäh die Trennung. Im anschließenden Kapitel erreicht Lucia ein paar Jahre später ihre norwegische Gastfamilie, verliebt sich in den Mitbewohner Sven, nutzt die neue Umgebung, um sich von der mittlerweile zermürbenden Liaison mit Piero zu befreien. In wechselnder Chronologie, die immer ein paar Jahre ausspart, geht es weiter: Piero kommt in Kairo an und erfährt dort unmittelbar, dass seine neue Freundin schwanger ist. In Oslo wiederum verkracht sich Lucia, die mittlerweile ebenfalls ein Kind erwartet, mit Sven und plant dann ihre Rückkehr nach Italien.

Die die Gefühle der Figuren duplizierenden Farben, die jedem Kapitel eine strenge Signatur verleihen, ersetzen dabei überflüssige Worte. Sie werden zum Platzhalter des in der Erzählung behaupteten, jedoch nie gezeigten Glücks. Nach einem besonders radikalen Zeitsprung, wenn mindestens ein Jahrzehnt verstrichen und das nächtliche Szenario vollends in ein dunkles, verwaschenes Lila getränkt ist, treffen sich Lucia und Piero in einer Pizzeria ihrer alten Heimatstadt wieder: älter, reflektierter, korpulenter, resignierter, aber immer noch von einer gegenseitigen Faszination beflügelt.

Es ist ein bedrückendes, emotionales Niemandsland, in das Fior die zwei sehnsüchtig Darbenden, die sich nur noch verstohlen in Worten nahe sein können, entlässt. Ein kurzer trauriger Augenblick, in dem die beiden auf der Kundentoilette jede Selbstkontrolle fahren lassen, führt ihnen schließlich vor Augen, dass sich die Unschuld aus vergangenen Zeiten nie wiederherstellen lässt. Und es bleibt ununterscheidbar, was eigentlich für dieses Dilemma verantwortlich ist: Eine freie Entscheidung aus der Vergangenheit oder ein Rationalitätsprinzip, das sich als Druck der Verhältnisse zwischen die Liebenden zwängt und ihnen eine unumkehrbare Wahl zwischen Beruf oder Beziehung abverlangt.

Dieser Text erschien zuerst in der taz.

Manuele Fior: „Fünftausend Kilometer in der Sekunde“. Aus dem Italienischen von Maya della Pietra. Avant Verlag, Berlin 2011. 144 Seiten. 19,95 Euro

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.