Auf ins dystopische Montreal

Montreal im Jahre 2111. Ein riesiges soziales Gefälle spaltet die Bevölkerung in einige wenige, die sich die lebensverlängernden Dienste des zwielichtigen Jouvex-Konzerns leisten können und… den Rest. Nach dem publikumswirksamem Tod eines kleinen Mädchens, dem aufgrund seiner sozialen Herkunft diese Dienste verwehrt bleiben, entstehen mehr und mehr Unruhen, scheint das niedere Volk sich endlich zu erheben. Inmitten dieser Konflikte finden junge Menschen zueinander, werden Geheimnisse offenbart und wird vor allem schnell klar, dass eine gewaltige Grauzone zwischen Gut und Böse liegt.

ab_irato_covMit „Ab Irato“ erschien fast zeitgleich mit „We Stand on Guard“ eine weitere Dystopie, die im tatsächlich ja sehr ruhigen und weitläufig besiedelten Kanada spielt. Anders als bei erwähntem US-Comic präsentiert sich „Ab Irato“ jedoch deutlich nachdenklicher und wesentlich klassischer, was die grafische Gestaltung angeht. Nicht harte Tuschlinien, sondern weiche Buntstiftschraffuren geben hier den Ton an, die mit einer dezenten, grau-braunen Farbpalette eher an eine kunstvolle Graphic-Novel als an einen knalligen Genre-Comic erinnern.

Insgesamt erscheint das sehr politische Zukunftsdrama überraschend realistisch und zeitgenössisch, finden sich erstaunlich wenig futuristische Elemente auf den matten Seiten des schicken, großformatigen Bandes. Etwas irritierend scheint es da, dass Künstler Labrosse trotz des offenbar bewussten Verzichts auf zu viel Hollywood-kompatibles Spektakel die politischen Strukturen seiner gar nicht so schönen neuen Welt nicht etwas sorgsamer und komplexer ausgestaltet hat. Stattdessen verlässt er sich auf viele verschiedene Charaktere in unterschiedlichen Bürgerkriegsparteien, deren Schicksale er vereinzelt und vorsichtig miteinander verbindet, statt sie eng miteinander zu verflechten.

Am Ende ist „Ab Irato“ so zu einer ungewohnt ruhigen Scifi-Erzählung geworden, die vor allem durch ihre sehr klassische und kunstvolle Optimierung glänzt und dem interpretationswilligen Leser viel Luft zwischen den Zeilen und Bildern lässt, ohne ihm dabei eine bestimmte Ideologie aufzwängen zu wollen. Denn hier gibt es auch anständige Polizisten und extremistische, egoistische Widerstandskämpfer, werden Charaktere bewusst als Individuen geformt, nicht nur als Repräsentanten ihrer Fraktion. Wer sich dabei mehr Explosionen, Unterhaltung und Dynamik wünscht, der greift alternativ vielleicht zur ebenfalls bei Splitter erschienenen Serie „Lazarus“.

Thierry Labrosse: Ab Irato. Splitter, Bielefeld 2016. Hardcover, 168 Seiten, 29,80 Euro