Luis Eduardo de Oliveira, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Leo, verbrachte eine politisch bewegte Jugend in Südamerika, bevor er 1981 nach Frankreich auswanderte, um sein Glück als Comic-Zeichner zu versuchen. In den 70ern war er für die Zeichnungen in „Pilote“ und „Métal Hurlant“ entflammt, und als geübter Illustrator erhoffte er sich eine Karriere. Nach diversen kleineren Projekten entdeckte ihn der Autor Rodolphe und ließ Leo seine neue Serie „Trent“ zeichnen. Der Durchbruch gelang Leo jedoch erst 1993 mit seinem Science Fiction Projekt „Aldebaran„, das sich inzwischen zu einem eigenen Comic-Universum mit zahlreichen Zyklen entwickelt hat. Parallel arbeitete er weiter an „Trent“ und führte die Zusammenarbeit mit Rodolphe mit „Kenya“, „Amazonia“ und „Centaurus“ fort. Gemeinsam mit Co-Autorin Corine Jamar und Zeichner Fred Simon entwickelte er außerdem die öko-dystopische SF-Erzählung „Mermaid Project„.
Mit freundlicher Genehmigung des Splitter Verlags präsentieren wir dieses im Sommer 2015 von Marc Gauvain geführte Gespräch mit Leo aus dem Bonusteil des 6. „Antares„-Bandes.
Marc Gauvain: „Die Welten von Aldebaran“ gehören unstrittig der Science-Fiction an. Sie arbeiten auch an einer anderen Serie mit, „Mermaid Project“, die noch stärker in der Sparte der Antizipation angesiedelt ist, das heißt, dass sie in einer nahen Zukunft stattfindet. Ist es letztlich nicht schwieriger, Antizipation zu betreiben, da man doch den Bezug zur heutigen Realität zwingend im Auge behalten muss?
Leo: Das kann man sagen, ja. Wir haben der heutigen Realität den Gedanken entnommen, dass ein katastrophaler Krieg nichts ist, was für die mehr oder weniger nahe Zukunft ausgeschlossen werden kann. Danach haben Corine1 und ich uns große Mühe gegeben, uns auszumalen, wie die Welt nach einer solchen Katastrophe aussähe: Unsere Geschichte spielt sich in einer solchen Welt ab. Einer Welt, in der es kein Erdöl mehr gibt, das Netz der Kommunikationssatelliten zerstört ist und eine verheerende Lebensmittelknappheit einen Großteil der Bevölkerung ausgelöscht hat. Unter diesen extremen Bedingungen sind die Völker des Südens, die in armen Ländern leben, weit besser in der Lage, zu überleben und voranzukommen. Die Völker der ehedem reichen Länder, die im Laufe eines jahrhundertelangen Lebens im Wohlstand diese Fähigkeit verloren haben, Schwierigkeiten zu meistern, wurden von der Bevölkerung der ehemaligen Dritten Welt verdrängt.
Und so ist das politische Hauptmerkmal des Planeten, auf dem sich unsere Geschichte abspielt, dass die aktuell dominanten Nationen zusammengebrochen sind und von den armen verdrängt wurden. Die Überlebenden der Katastrophe haben deren Ursachen ausgemacht: Die Habsucht der – hauptsächlich von Weißen dominierten – reichen Länder jener Zeit hatte zu einer Verbreitung großer Armut in der Dritten Welt geführt. Der andere Grund ist eine Konsequenz dieser Armut: der religiöse Fanatismus. Folglich existiert in der Gesellschaft, in der unsere Geschichte spielt, ein starker anti-weißer Rassismus, und jegliche Religion wurde verboten. Die führenden Köpfe und die politischen und wirtschaftlichen Leader der Nord- und Südländer sind nun im Wesentlichen Vertreter der ehemals „dominierten“ Staaten: der schwarzen, arabischen und asiatischen Bevölkerungen.
Jean Giraud selbst, der das Vorwort zur (französischen) Gesamtausgabe der „Welten von Aldebaran“ geschrieben hat, erklärte, dass man bei der Lektüre Ihrer Geschichten alle Konventionen der Science-Fiction vergessen müsse, und es ist wahr: Sie haben eine sehr persönliche Art und Weise, Geschichten zu erzählen, die eingeschlossen, bei denen Sie mit anderen zusammenarbeiten, wie in „Mermaid Project“, „Kenya“, „Namibia“, „Ferne Welten“ oder „Centaurus“.
Es fällt mir selbst schwer herauszufinden, wo meine Art, Geschichten zu erzählen, den Rahmen des Üblichen verlässt. Meine Vorgehensweise ist folgende: Schreiben, was ich selbst gerne lesen würde – aber ich bin mir sicher, dass die allermeisten Szenaristen dasselbe sagen würden. Wobei ich denke, dass es einen Unterschied gibt zwischen meinen Solo-Geschichten und denen, die in Zusammenarbeit mit Co-Autoren entstehen, vor allem, wenn es sich um Rodolphe handelt. Durch seine große Erfahrung und unsere Art zu arbeiten gibt es eine perfekte Arbeitsteilung zwischen uns, wir sind wirklich vierhändig schöpferisch tätig: Ich empfinde keinerlei Dominanz meiner Erzählweise gegenüber der seinen.
Es ist sicher so, dass wir bei unserer Konzeption des Schreibens auf einer Wellenlänge liegen. In „Trent“ zum Beispiel, meiner ersten Zusammenarbeit über einen langen Zeitraum mit ihm – bei der ich nur der Zeichner war –, habe ich seine Art zu erzählen sehr geschätzt, ruhig, detailliert, die Tatsache, dass er sich seine Zeit nimmt, um die Persönlichkeit der Figuren zu entwickeln. Genau das mache ich auch gerne. Mit Corine Jamar gibt es ebenfalls diese Nähe im Konzipieren der Art von Comics, die wir mögen. Ohne das ist es unmöglich, zu zweit zu arbeiten.
Es gibt zwischen den Zeilen Thematiken, die in „Die Welten von Aldebaran“ und in „Mermaid Project“ wiederkehren, und man spürt ein starkes Anliegen für gewisse Themen wie der Platz der Frau in der Gesellschaft, die umweltbezogenen Umwälzungen, den wissenschaftlichen Fortschritt… Liegt all das Ihnen am Herzen?
Ich muss zunächst klarstellen, dass ich das nicht plane: Wenn ich mir meine Geschichte ausdenke, sage ich mir nicht: „Ich werde dieses oder jenes Thema behandeln.“ Das, was Vorrang hat oder was meine Fantasie anregt, ist das Abenteuer, sind die Schicksalswendungen, die die Figuren durchleben werden. Dann, im Moment des Kreierens der Situationen, der Auswahl der Themen der Geschichte, kommen meine persönlichen Erfahrungen ins Spiel, meine Weltsicht sowie die meiner Co-Autoren, und wir stoßen unweigerlich auf Problematiken, die uns ganz besonders berühren. Was den Platz der Frau angeht, ist es anders: Ich habe absichtlich Heldinnen gewählt, denn in den meisten Geschichten ist der Held ein Mann, die Frau begnügt sich bestenfalls damit, ihm zu folgen, und schlimmstenfalls, ihn in seinem Handeln zu stören… Ich hasse das! Also sind meine Frauen stark, effizient, sie verstehen es, angesichts der Gefahr die Ruhe zu bewahren. Und sie sind schön, ganz klar!
Die Frauen spielen in der Tat eine Hauptrolle in Ihren Geschichten: Kim, natürlich, aber auch Manon in der Serie „Überlebende“, Cathy in „Kenya“ und „Namibia“ sowie Romane in „Mermaid Project“. Pierre Christin und Jean-Claude Mézières waren die Ersten, die eine starke weibliche Figur durchgesetzt haben (in „Valerian und Veronique“). Von Ihrer Seite aus besteht auch dieser offensichtliche Wille. Jedoch schonen Sie Ihre Figuren nicht, angefangen bei Romane, die sich in jeder Bedeutung des Wortes durchschlagen muss.
Die Veronique von Christin und Mézières hat mich sehr inspiriert. Sie ist nicht nur effizient und stark, sie ist auch viel lebhafter als der „arme“ Valerian, der sich oft damit begnügt, ihr zu folgen. Ich war immer schon ein Fan der Serie. Eine andere Inspirationsquelle war „Alien“, wo die Frau die schöne Kommandantin des Schiffes ist, die das Monster besiegen wird, und nicht die Muskelpakete, die die Mannschaft bilden. In „Mermaid“ ist Romane eine intelligente und starke Frau, und es stimmt, dass Corine und ich sie einige sehr harte Momente haben durchmachen lassen, die Arme! Obendrein haben wir ihr noch Handicaps angehängt: Sie ist nicht sehr schön, sie ist weiß und blond – Merkmale, die in dieser Zukunft sehr schlecht angesehen sind – und wird oft Opfer von Rassismus werden. Aber indem sie ihre Handicaps, die sie zwingen, die Stärkste zu sein, überwindet, wird Romane beweisen, dass sie eine bemerkenswerte Person ist.
Unser Vorstellungsvermögen wird zwangsläufig gespeist aus den Erfahrungen, die wir durchlebt haben. Meine Geschichten spielen zum Beispiel fast alle an warmen Orten. Kein Wunder, ich bin geboren und aufgewachsen in Rio de Janeiro, einem Ort, der keinen Winter kennt… Ich habe Schnee zum ersten Mal als Erwachsener gesehen! Aber aufgepasst, es gibt auch Quellen, die Büchern und Filmen entstammen: So haben Rodolphe und ich Kenya und Namibia geschrieben, ohne je einen Fuß in diese Länder gesetzt zu haben!
Bei „Mermaid Project“, das von Fred Simon gezeichnet wird, ist Corine Jamar Ihre Co-Autorin… Welche Aufgabe hat ein jeder bei dieser Zusammenarbeit?
Corine ist für mich die Initiatorin dieses Projekts. Ich werde das erklären: Ich habe ihr Buch „Emplacement réservé“ („Reservierte Stellfläche“, gemeint ist ein Behindertenparkplatz) gelesen, und ich war sehr beeindruckt von der Qualität ihres Schreibens und von der Feinheit der Monologe der Hauptfigur, einer Frau, die eine geistig behinderte Tochter hat. Mir kam der Gedanke, Corine vorzuschlagen, gemeinsam eine Geschichte zu schreiben, mit einer Frau als Hauptdarstellerin: Ich hoffte, auf ihre Gewandtheit zählen zu können, diese Hauptdarstellerin „zum Sprechen zu bringen“. Aber ihre Rolle bei unserer Zusammenarbeit ging über diese ursprüngliche Idee bei Weitem hinaus: Corine hat sogar die Konzeption der Geschichte enorm beeinflusst. Zum Beispiel wollte ich anfänglich, dass sie sich komplett in einem Raumschiff abspielt. Sie brachte mich zu der Feststellung, dass dies keine so gute Idee war, und sie hat mich überzeugt, „zurückzukehren zur Erde“. Allein schon wegen der Kulisse wäre eine Geschichte, die vollständig in einem Raumschiff spielt, sterbenslangweilig geworden! Und wir wären nicht in den Genuss der prächtigen urbanen Szenen unseres Freundes Fred Simon gekommen!
Corine ist eine unermüdliche und enthusiastische Arbeiterin, sie bereichert die Geschichte um wissenschaftliche Grundlagen, die sie von überallher zusammenträgt, was die Story um einiges plausibler und tiefgründiger macht. Wenn wir uns treffen, um über die Fortsetzung unserer Geschichte zu beraten (üblicherweise in einem guten Restaurant in Brüssel, wo sie lebt), kommt sie stets mit einem Stapel wissenschaftlicher Artikel, Reportagen, Bildern etc., die im Zusammenhang mit den in „Mermaid“ behandelten Themen stehen, die sie wer weiß wo gefunden hat!
Die Wahl von Fred als Zeichner (wir haben den ersten Teil geschrieben, ohne zu wissen, wer ihn zeichnen würde) war ein absoluter Volltreffer! Nebenbei bemerkt, der Verleger, François Le Bescond, und ich hatten beide jeder für sich dieselbe Idee! Wir haben eine ganze Weile warten müssen, bis Fred seine anderen Projekte zu Ende gebracht hatte, aber wir haben mit Corine entschieden, dass es das allemal wert sei. Das Resultat hat uns recht gegeben. Ich glaube, dass die Kraft von Freds Zeichnungen ein erheblicher Trumpf für die Serie ist. Nicht nur durch seine umwerfende und überaus detaillierte Darstellung der Kulissen, sondern auch durch den subtilen Ausdruck, den er den Gesichtern seiner Figuren verleiht, auch wenn der Stil nicht absolut realistisch ist. So etwas ist sehr schwer zu erreichen! Und obendrein versteht er alles sehr schnell… Die zentralen Figuren, Romane und El Malik, waren natürlich maßgebend. Anhand von einigen Angaben, die wir ihm gemacht haben, und auf der Grundlage des Szenarios hat er uns einige Skizzen geschickt, und… es war perfekt! Romane und El Malik existierten tatsächlich, genau so, wie wir sie uns vorgestellt haben, als wir das Szenario schrieben! Für einen Szenaristen ist es ein wahres Vergnügen, mit jemandem zu arbeiten, der so viel Talent hat wie Fred.
Das Interview führte Marc Gauvain, Sommer 2015.