Mehr Sein als Schein

„Nimona“ ist einer der schönsten Comics, die das moderne Fantasy-Genre zu bieten hat. Heute startet auf Netflix die Verfilmung von ND Stevensons preisgekröntem Werk.

Erzbösewicht Ballister Blackheart erhält eines Tages unerwartete Unterstützung durch die niedliche Gestaltwandlerin Nimona. Diese vereint erstaunliche Kräfte mit jeder Menge jugendlichem Ungestüm und zweifelhaften, moralischen Standards. Auch wenn das allgegenwärtige „Institut“ die Bürger der hochtechnisierten Fantasy-Welt glauben lassen will, dass Blackheart ein schlechter Mensch sei, liegen die Dinge tatsächlich gar nicht so klar auf der Hand. Er ist nicht der sinistre Schurke, für den man ihn halten soll, Nimona nicht nur einfach ein freches Mädchen mit magischen Fähigkeiten und der erste Ritter und Musterknabe Ambrosius Goldenloin auch alles andere als ein schillernder Held…

Es fällt sicher leicht, sich von den ersten Kapiteln der vermeintlichen Fantasy-Persiflage in die Irre führen zu lassen. Der knuddelige, aber sehr einfach gehaltene Zeichenstil und die zu Beginn noch recht episodische, gag-orientierte Erzählweise lassen schnell vermuten, man könne sich bei der Lektüre von „Nimona“ auf unkomplizierte, leichte Unterhaltung einstellen. Aber weit gefehlt. Mit exponentiell anwachsendem Erzähltempo wandelt sich die Fantasy-Saga schnell in ein zwar liebenswert-witziges, aber nicht minder anspruchsvolles und gesellschaftskritisches Epos. Alle Charaktere gewinnen immens an Komplexität, Genre-Klischees werden geschickt auf den Kopf gestellt und die Erwartungshaltung des Publikums auf eine aufregende Achterbahnfahrt geschickt. Wer dem Buch die benötigte Zeit gibt, wird mit einer einfühlsamen, extrem innovativen Geschichte voller komplett unerwarteter Wendungen belohnt, die in ihrer emotionalen Intensität eher an den Genuss eines Pixar-Films erinnert als an manche witzig-belanglose Fließband-Strips aus dem Internet.

Mit dem Sublabel „Minisplitt“ hat Splitter das goldrichtige Format – nämlich das Paperback/Taschenbuch – für das ambitionierte Projekt gefunden, dessen wahre Schönheit sich erst auf den zweiten Blick erschließt. Denn eine, wie von den Bielefeldern gewohnte, aufwändige und großformatige Hardcover-Fassung hätte preislich aufgrund des recht hohen Seitenumfangs sicher viele Gelegenheitskäufer abgeschreckt. Ein ganz bezauberndes Buch, das hoffentlich seinen Weg in die Hände vieler Fantasy-Fans finden wird, die noch keinen Zugang zum Medium Comic gefunden haben. Wer Comics mag, sollte es ohnehin längst im Regal stehen haben.

ND Stevenson: Nimona • Aus dem Englischen von Gerlinde Althoff • Splitter Verlag, Bielefeld 2016 • 276 Seiten • Softcover • 19,95 Euro

Matthias Penkert-Henning liebt seit frühen Kindheitstagen wilde Fantasy- und SF-Storys. In einer Zeit vor der großen CGI-Revolution fand er solche Epen vor allem in Comicbüchern. 2015 gründete er das Online-Magazin DeinAntiHeld.de. Zudem schreibt für den Tagesspiegel, Panini Comics Deutschland, Comic.de und ist Teil des POW!-Podcast. Darüber hinaus produziert er animierte Video-Trailer für Comics. Sein aktuelles Mammutprojekt ist die deutsche Übersetzung der „Teenage Mutant Ninja Turtles Splitter Collection“.