Völkerball 2068 – „Mechanica Caelestium“

Wer sich noch an Völkerballduelle aus der Schulzeit zurückerinnert, wird sich kaum vorstellen können, dass ein solches im Zentrum einer dystopischen Erzählung im Stile der „Hunger Games“ stehen könnte. Merwan beweist in „Mechanica Caelestium“ das scheinbar Unmögliche. Gilt Völkerball als Totalkapitulation des Sportlehrers vor pädagogischem Anspruch oder vor dem Widerstand der Klassengemeinschaft gegen Stufenbarren, Reck und Dauerläufe, inszeniert Merwan hier ein urkomisches Sportfestival mit Öko-Setting.

Die Ausgangslage im Jahr 2068 ist miserabel: Die zentralfranzösischen Wälder von Fontainebleu sind seit einer globalen Katastrophe radioaktiv verseucht, und die Gesellschaften sind zu modernen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften degeneriert, in denen Piraterie und Korruption flankiert werden von politischen Institutionen, die zur Farce verkommen sind. Es gibt zwar Regeln und Gesetze, aber es sind eher die Gesetze der Gesetzlosen und die Rechte der Stärkeren, die sich behaupten. Kurzum: „Das ganze System ist krank“ (S. 45).

Merwan (Autor und Zeichner): „Mechanica Caelestium“. Aus dem Französischen von Resel Rebiersch. Schreiber & Leser, Hamburg 2020. 208 Seiten. 32,80 Euro.

Die Welt ist komplexer, als sie auf Anhieb erscheint: Sie ist nicht in eine Dschungelidylle oder Waldhölle, je nach Interpretation, zurückgefallen, sondern neben der Waldgemeinschaft von Pan besteht auch die technologisch fortgeschrittene Gesellschaft von Fortuna, wobei das Bild nicht so schwarzweiß bleibt, wie Merwan es am Anfang zeichnet. By the way: Nichts liegt dieser von Merwan herrlich bunt gestalteten Welt ferner als tristes Schwarzweiß.

Ein Gesandter der Republik Fortuna besucht die Reisbauern von Pan, um ihnen ein Angebot zu machen, das an Schutzgelderpressungen aus Cosa-Nostra-Filmen erinnert: „Geld oder Leben“ oder, so fällt dem politischen Führer in letzter Sekunde ein, ein Urteil der „Mechanica Caelestium“, was nichts weiter bedeutet, als dass die Angelegenheit auf dem Spielfeld ausgetragen wird.

Die Waldbewohner Aster und Wallis, er heimlich in sie verliebt, stehen im Zentrum der neu zu bildenden Völkerballmannschaft, und sie treten gegen einen übermächtigen Gegner an. In einem dramatischen Best-of-Three wird ermittelt, ob sich die Wald-und-Wiesentruppe gegen die Völkerball-Profis von Fortuna behaupten kann. Pan wird unerwartete Hilfe bekommen. Und auf unerwarteten Widerstand treffen.

Der Plot enthält erstaunlich viele erzählerische Leerstellen, die womöglich erst in einer Fortsetzung geklärt werden könnten: Warum ist die Welt so derangiert, wie sie sich darstellt? Was hat es mit den angedeuteten Vorgeschichten der Figuren auf sich? Und warum trägt Aster stets einen Fuchsschwanz? Das herrlich-bizarre Spiel um Essen oder Hunger ist ungemein kurzweilig, auch dank des lakonischen Humors.

Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga hat den Begriff des „Homo ludens“ (1939) geprägt und damit – keineswegs als erster – die Bedeutung des Spiels für unsere Gesellschaft hervorgehoben. Auch Schiller schrieb, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Das Spiel ist also keineswegs nur Kinderspiel, und in einer ganzen Reihe von Büchern und Filmen sehen wir dies konsequent zu Ende gedacht: So geht es auch in dem deutschen Spielfilm „Das Millionenspiel“ (1970) um Leben um Tod. Wer Dieter Thomas Heck und Dieter Hallervorden in Höchstform sehen möchte, findet in diesem Film eine hellsichtige Mediensatire – Big Brother lässt grüßen.

Seite aus „Mechanica Caelestium“ (Schreiber & Leser)

Solche Menschenjagden sind später in vielen weiteren Versionen, literarisch wie filmisch, inszeniert worden, am populärsten wahrscheinlich in Stephen Kings Roman „The Running Man“ (1982), der einige Jahre später mit der gleichnamigen, sehr freien Verfilmung mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle (1987) adaptiert wurde. Auch vier der „Hunger Games“-Romane (2008-20) bzw. die Verfilmung des ersten Teils (2012) basieren auf dem Gedanken, dass eine Art dystopischer Gladiatorenkampf über Essen oder Hungern entscheidet. Das Merwan’sche Pan entspricht nicht ganz dem Panem von Suzanne Collins, aber die Namensähnlichkeit ist kaum zu leugnen.

Merwan (d. i. Merwan Chabane), der in Paris an der École nationale supérieure des arts décoratifs gelernt hat, begann seine kreative Karriere als Storyboarder für Videospiele, bevor er sich mit den Animationsfilmen „Biotope“ (2002) und „Clichés de soirée“ (2007) einem neuen Medium verschrieb. Seine Comic-Karriere begann parallel zu seinen filmischen Interessen mit „Pankat“ (2004), das in einer überarbeiteten Fassung unter dem Titel „Fausse garde“ (2009) erneut erschien. Dort zeigt sich schon das Interesse Merwans an der Darstellung von Kämpfen – nicht zuletzt als Metapher für einen (Über-)Lebenskampf. Während die meisten seiner Comics nur auf Französisch vorliegen, ist seine Trilogie „Le bel âge“ (2012-13), in der er drei Frauen mit ihrem Alltag kämpfen lässt, immerhin auf Englisch verfügbar. Die von ihm gezeichnete Weltkriegsserie „L’Or et le sang“ (2009-14) ist 2016 in zwei Bänden bei Schreiber & Leser erschienen („Der marokkanische Frühling“).

In diesem Jahr hat der deutsche Markt Merwan offenbar (neu) entdeckt: Nachdem Reprodukt im Februar eine Gesamtausgabe von „Für das Imperium“ (erstmal auf Deutsch 2011-12) aufgelegt hatte, zieht Schreiber & Leser nun mit dem im September 2019 bei Dargaud erschienenen „Mechanica Caelestium“ nach.

„Mechanica Caelestium“ verhandelt gewichtige Themen wie Herkunft, Geschlecht und Macht, ohne dabei in Stereotype zu verfallen. Merwan ist ein Comic gelungen, der das schöne Halbleinen-Gewand verdient hat, in das Schreiber & Leser ihn gekleidet haben.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Mechanica Caelestium“ (Schreiber & Leser)