„Docteur Mystere“ – Zwischen Erde und Mond

Eine wunderbare Hommage an Jules Verne.

docteur-cvr„Doktor Geheimnisvoll“ – als Name vielsprechend, und der ist hier mehr als nur Programm, sondern auch Inhalt. Denn der geheimnisvolle Herr mit Turban durchreist die Welt in seinem hermetisch verschlossenen, bis an die Zähne bewaffneten Gefährt, dem so genannten elektrischen Hotel, und erlebt mit seinem Sidekick Cigale wahrlich faszinierende Abenteuer – mitten in einer Welt voller absonderlicher Gestalten, faszinierender Erfindungen und literarischer Einsprengsel.

Da wird er in Mailand von der verängstigten Madame B um Hilfe bei der Suche nach ihrem Mann gebeten, der bei Arbeiten an der ersten pneumatisch betriebenen U-Bahn der Welt spurlos verschwunden ist. Mystère macht sich furchtlos auf die Suche, bedient sich dabei seiner Helfershelfer wie etwa dem Asiaten Ch’ing K’Way und nimmt die heiße Spur einer Verschwörung auf, die wahrhaft apokalyptische Ausmaße aufweist… Ein interplanetarischer Krieg droht auszubrechen, als Mystère und Cigale sich in einem eigens konstruierten Projektil zum Mond schießen lassen und überrascht feststellen, dass sie einen blinden Passagier an Bord haben: Eine Dame namens Lady Rowena hat sich eingeschmuggelt, um ihrem Verlobten nachzureisen, der sich in Richtung Erdtrabant davongemacht hat. Auf dem Satellit angekommen, stellt man erstaunt fest, dass der Mond eine innen ausgehöhlte künstliche Konstruktion ist und dass die Seleniten ihre ganz eigenen Vorstellungen der intergalaktischen Völkerverständigung haben… Zurück auf der Erde sieht sich Mystère schließlich dem „Schrecken des Schwarzen Dschungels“ gegenüber, als er mit Cigale in Indien in die Fänge des Kultes der Anhänger der Todesgöttin Kali gerät und auch wieder auf seine Nemesis trifft, die schon die Ereignisse von Mailand orchestrierte… doc_low8

In ihren fumetti um den geheimnisvollen Doktor liefern Alfredo Castelli und Lucio Filipucci eine ebenso freudige wie liebevolle Verneigung vor den großen Roman-Serial-Helden des 19. Jahrhunderts, die sich anfühlt, als habe Jules Verne einen ordentlichen Schluck Rotwein zu sich genommen. Die Figur des Docteur Mystère entstammt dabei tatsächlich den Seiten der Serien-Romane, die im Zuge des unglaublichen Erfolges von Vernes „Voyages Extraordinaires“, in denen seine Helden zum Mond, zum Mittelpunkt der Erde oder auch 20,000 Meilen unter den Meeren reisten, vor der Jahrhundertwende entstanden. In einem der zahlreichen ähnlich gelagerten, spekulativ-pseudowissenschaftlichen Abenteuer, die der Franzose Paul Deleutre für die Serie „Les Voyages Excentriques“ zusammenbraute, trat der universell gebildete Mystère auf, mit seinem elektrischen Hotel (ebenfalls von Jules Verne „entlehnt“), dem Assistenten Cigale und einer Armada von exotischen Feinden.

Auch wenn Sidekick Cigale in Form von weiteren Romanausflügen zunächst ein längeres Leben genießen durfte, feierte Mystère 1996 seine Auferstehung im Comic: unter der Feder von Alfredo Castelli trat der gute Doktor in der langlebigen italienischen Serie „Martin Mystère, der Detektiv des Unmöglichen“ (in Deutschland unter dem Titel „Alan Dark. Der Jäger des Unheimlichen“ im Bastei-Verlag erschienen) dank einer Zeitmaschine (gestaltet im Stile der Filmversion von George Pal) als Urahn des Titelhelden auf. Mit Zeichner Filipucci kreierte Castelli im Anschluss sogar eigens ein Spin-off, das sich ausschließlich mit dem faszinierenden Mystère beschäftigte und den wir hier in einer Gesamtausgabe erleben dürfen.

doc_low9Der literarische Mystère dient dabei bestenfalls noch als Ausgangspunkt: Vielmehr schafft Castelli eine faszinierende Mischung aus Hommage und Persiflage, die auf jeder Seite nahezu überbordet von Querverweisen, Anspielungen und direkten Zitaten aus der Welt der populären Utopie aus Literatur und Film. In den in bester Münchhausen-Manier von Mystére selbst erzählten Geschichten tummeln sich als Drahtzieher neben historisch verbürgten Charakteren wie Feldmarschall Radetzky auch sattsam bekannte fiktive Figuren wie Sax Rohmers Dr. Fu Man-Chu, der Glöckner von Notre-Dame rettet Madame B. den Hals, das Phantom der Scala (das aussieht wie Lon Chaney in der epochalen Stummfilm-Fassung) ist beauftragt, die Logenbesucher, die nicht zahlen, ordentlich zu erschrecken – eine inhaltliche Integration von literarischen Figuren also, wie sie auch Sylvain Cordurié (freilich in ungleich ernsterem Kontext) in seinem ganz eigenen Sherlock-Universum bietet (zu bestaunen etwa in Crime Alleys oder Sherlock Holmes Society, beide bei Splitter).

Auch gestalterisch nähert sich Filipucci, der das Geschehen detailreich, mit feinem Strich ein wenig an ligne claire-Vertreter erinnernd inszeniert, bisweilen an genredefinierende Vorlagen an: der Kanonenschuss in Richtung Weltall nimmt bis in direkte Bildzitate die Fassung des Filmpioniers Georges Méliès von Jules Vernes Reise zum Mond auf – inklusive des für das frühe Kino ikonischen Motivs des Mannes im Mond, der das Projektil ins Auge bekommt. Anachronismen und intertextuelle Sprünge machen dabei Teil der Freude aus: Auf dem Mond findet die Expedition neben der amerikanischen Flagge auch die Rakete, mit der schon Tim und Struppi zum Erdtrabanten reisten, bevor sich Mystère auf einem Gefährt ins All erhebt, das einem gewissen Raumschiff Enterprise verdächtig ähnelt, während die gesamte Mond-Episode im Titel auf den bahnbrechenden Reißer von H.G. Wells verweist.Doc_low10

Genüssliche eingebaute und parodierte Rassen-Klischees (Mystère selbst stellt fest, Ch’ing spreche wie ein Jahrmarkt-Chinese), Geschlechter-Stereotypen (Cigale hat die permanent in Ohnmacht fallenden Damen aufzufangen und packt sie dabei gerne an den weiblichen Formen) und bewährte Handlungsmuster (atemlose Action) tun ihr Übriges zu einer Verneigung vor dem Geist der Jahrhundertwende. Diese Lust am Spiel mit literarisch-filmischen Versatzstücken erzeugt eine fröhlich anarchische Pastiche, die in fast schon expressionistischer Manier (nicht umsonst enthielt das Kino-Buch von 1914 nicht zuletzt Szenarien für absurde Reisen) die Absurditäten der kommerziellen Utopie auskostet, ohne ihre tiefe Verwurzelung darin zu verleugnen – und dabei jedem Freund des Genres eine wohlige Atmosphäre des Wiedererkennens und Entdeckens bietet.

Der rührige Erko-Verlag bringt in diesem schön eingerichteten Integral die drei Episoden „Die Geheimnisse von Mailand“, „Der Krieg der Welten“ und „Schrecken des Schwarzen Dschungels“, die in Deutschland als Einzelalben schon einmal 2008 bei Kult Editionen das Licht der Welt erblickten. Die Gesamtausgabe, die im Original 2015 erschien, liefert mit drei „Dossiers“, einem Portfolio und einer Einleitung von Castelli einen wunderbaren Blick in die Welt des Doktors, den sich kein Freund der phantastischen Literatur entgehen lassen darf. Und auf der Rückseite findet sich sozusagen als Dreingabe eine nette Referenz auf Edgar Allen Poes Morde in der Rue Morgue…

Alfredo Castelli, Lucio Filippucci: Docteur Mystère Gesamtausgabe. Erko, Wuppertal 2016. 160 Seiten, € 24,95