Zu sehr Strahlemann? – „Howard Flynn“

Frisch von der Marineschule geht der junge und unerfahrene Lieutenant Howard Flynn auf seine erste Seereise („Die erste Reise“, 30 Seiten, von 1964). Und die hat es gleich in sich. Sein Kommandant auf der Achilleus ist der moralisch verkommene Kapitän Snackbull, der gemeinsam mit dem nicht minder niederträchtigen Bootsmann die Mannschaft drangsaliert wie Käpt‘n Bligh zu seinen besten Zeiten. Kein Wunder also, dass Flynn mit seiner idealistischen und gerechten Art sofort aneckt. Später, in der Südsee am Ziel der Reise, schmieden die beiden Halunken gar ein Komplott gegen den „Neuen“, dem daraufhin als Sündenbock sogar die Todesstrafe droht… „Klar zum Entern“ (30 Seiten, 1964/65): Inzwischen rehabilitiert, wird Howard Flynn mit einer neuen Mission betraut: Er soll – wieder mit der Achilleus – die Tochter des britischen Botschafters in Brasilien nach Mirante zum Vater bringen. Zuerst erweist sich die Dame als schwierig und eingebildet, dann erfährt Flynn obendrein, dass die Stadt unter der Kontrolle der Freibeuter steht und der Botschafter deren Gefangener ist. Flynn macht sich auf, den Mann zu befreien und dem Oberpiraten Old Black das Handwerk zu legen.

Willam Vance (Zeichner), Yves Duval (Autor): „Howard Flynn – Gesamtausgabe“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 176 Seiten. 34 Euro

In den folgenden drei Kurzgeschichten von 1966/67 muss sich Flynn bei einem vermeintlich banalen Auftrag erneut mit einem Piraten herumschlagen („Eisenkopf“, 6 Seiten); er bekommt – inzwischen zum Kommandanten befördert – einen ungeschickten und unglücklichen Offiziersanwärter zur Seite gestellt („Der Neffe des Admirals“, 7 Seiten) und soll in „diplomatischer Mission“ (7 Seiten) anonym und zivil eine Waffenlieferung für einen Sultan organisieren, der jedoch ein falsches Spiel spielt. 1968 entstand „Die Stunde des Verräters“ (12 Seiten): In der Admiralität gibt es offenbar eine undichte Stelle. Es scheint, als sei der Admiral selbst der Verräter, der einmal mehr Howard Flynn, seinen Vertrauten, zum Sündenbock machen will. Der lässt sich natürlich nicht lumpen und bringt Licht in die Affäre – inklusive eines kleinen Twists am Schluss. Auch in „Die Kralle des Tigers“ (1968/69, 22 Seiten) findet das Geschehen komplett an Land statt. Nach einer Mordserie an acht ehemaligen Offizieren und dem Verschwinden ebenso vieler Schiffe soll Howard Flynn dem Mysterium auf den Grund gehen und trifft bald undercover auf den „Tiger“, einen Bösewicht erster Güte, den es zu Strecke bringen gilt, ehe er in London großes Unheil anrichten kann.

Die Comic-Geschichten mit dem untadeligen Seemann Howard Flynn erschienen gut sechs Jahre lang hauptsächlich im berühmten Tintin-Magazin. Danach folgten noch zwei illustrierte Prosa-Erzählungen („Das Gold der Constellation“, 1979, und „Kurs auf Nazaré“, 1973). Sämtliche Storys sind nun erstmals auf Deutsch in einer Gesamtausgabe zusammengefasst, wobei leider keinerlei Sekundärmaterial enthalten ist. Trotz der relativ kurzen Laufzeit (und der uneinheitlichen Veröffentlichungsweise) ist „Howard Flynn“ comic-historisch von Bedeutung, nämlich als erste Serie des belgischen Zeichners William Vance (William Van Cutsem, 1935-2018), der viel später ab 1984 gemeinsam mit Autor Jean van Hamme die Hit-Serie „XIII“ schuf und damit endgültig international bekannt wurde. Vance zeichnete bereits ab 1962 Kurzgeschichten für das Tintin-Magazin, die von Yves Duval geschrieben wurden. Duval fungierte dann bei „Howard Flynn“ auch als Autor. Im Splitter Verlag sind auch Vances spätere Serien „Ramiro“ (Ritter), „Ringo“ (Western) und „Bruce J. Hawker“ (wieder Seefahrer) als Gesamtausgaben erhältlich (wir warten noch immer auf eine vernünftige „Bob Morane“-Gesamtausgabe!), während „Bruno Brazil“ gerade wieder neu im All Verlag erscheint.

Aber „Howard Flynn“ machte den Anfang. Kurioserweise erschienen zuerst die längeren Geschichten (mit 2 x 30 Seiten, die auch im frühen Zack zum Abdruck kamen), gefolgt von kurzen Episoden, denen es natürlich an erzählerischem Tiefgang mangelt, ehe der Held mit den abschließenden beiden Prosa-Erzählungen endgültig ins Archiv wanderte. Vielleicht war Lieutenant Flynn, der seinen Nachnamen von dem legendären Hollywood-Swashbuckler und Schwerenöter bekam, während sein Aussehen und sein Charakter eher an Gregory Peck in „Des Königs Admiral“ erinnern, einfach zu sauber, zu ehrenhaft und damit zu eindimensional. Zu sehr Strahlemann, selbst für die damalige Zeit. Vielleicht fehlten auch schillernde Neben- oder Identifikationsfiguren – der Schiffsjunge Alan, dessen Protegé Flynn war, tauchte als halbherziger Sidekick nur in den ersten beiden Geschichten auf und war dann nie mehr gesehen. Vielleicht war auch die Konkurrenz schlichtweg zu stark („Der Rote Korsar“ in Pilote). Erstaunlich ist der von Beginn an reife und charakteristische Zeichenstil von Vance. Sind in der ersten Episode Gesichter und Köpfe perspektivisch mitunter noch ungelenk dargestellt, ist dieses Manko bald behoben und Vance glänzt mit zeichnerischen Finessen wie Licht-Schatten-Panels im Schein einer Laterne, die eine dichte Atmosphäre erzeugen. Von den detaillierten Schiffsansichten ganz zu schweigen. Für Freunde klassischer frankobelgischer Abenteuer-Comics ist der Band somit Pflicht.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Seite aus „Howard Flynn – Gesamtausgabe“ (Splitter Verlag)