Tim und Struppi – „Die Meisterwerke von Hergé“

meisterwerke-herge-cvrHergés „Tim und Struppi“ sind einzigartige Ikonen der franko-belgischen Comickunst. Mit einem einzigartigen Dilemma: sie, bzw. ihre Alben, sind endlich. Denn Hergé verfügte noch zu Lebzeiten (er starb 1983), dass nach seinem Tod niemand neue Geschichten über den pfiffigen Reporter und seinen Terrier schreiben und zeichnen darf. So bleibt uns ein hermetisches Werk, bestehend aus 24 Alben (das Fragment „Tim und die Alpha-Kunst“ eingerechnet), die zwischen 1930 und 1979 entstanden, zuzüglich natürlich diverser anderer Serien, wie „Stups und Steppke“ oder „Jo, Jette und Jocko“, die jedoch nicht den Kern seines Ouvres bilden. Der heißt „Tim und Struppi“, wobei Hergé einer der ganz wenigen Comic-Schöpfer ist, die sich rühmen können, eine Stilrichtung der Neunten Kunst erdacht zu haben: die Ligne Claire.

Doch zurück zur Endlichkeit: die 24 Alben gehören zum Grundrepertoire, die jeder Comicleser kennen oder sein eigen nennen sollte. Möglichkeiten dazu gibt es genug in Form von diversen Formaten, die traditionell bei uns im Carlsen Verlag erscheinen: als klassisches Softcover-Album, als Kompaktausgabe, als Werkausgabe, als Faksimile-Edition, im Kleinformat oder gar als Dialekt-Variante (bisher exklusiv in Hessisch). Nachschub für Fans, Leser und Sammler ist somit garantiert, trotz der Endlichkeit. Kritisch ausgedrückt: die Kuh wird immer wieder gemolken. Was legitim ist – man vergleiche die diversen Don Rosa und Carl Barks Editionen in der Egmont Comic Collection.

Zu den Alben-Varianten gesellen sich immer wieder Sekundär-Werke. In Frankreich bzw. in Belgien (das Musée Hergé liegt in der Nähe von Brüssel) noch viel öfter und zahlreicher als bei uns. So ist über Hergés Leben, seine Krisen, seine Sternstunden, seine Schaffensperioden auch bereits alles geschrieben, was geschrieben werden kann. Es gibt kaum einen Comic-Künstler, der so komplett durchleuchtet ist, wie der 1907 in Brüssel geborene Belgier. Als wichtige Sekundär-Werke sind in Deutschland v.a. die beiden Bände des Briten Michael Farr zu nennen, der in „Auf den Spuren von Tim und Struppi“ und in „Tim & Co.“ Hergés Arbeiten, Inspirationen und Figuren akribisch recherchiert und präsentiert. Mit „Tim und Struppi – Die Meisterwerke von Hergé“ veröffentlicht Carlsen nun einen weiteren, neuen Sekundärband, für den sich der 2015 verstorbene Pierre Sterckx, Zeitgenosse und Freund Hergés, verantwortlich zeigt. Sterckx, der zahlreiche Werke über Hergé und Tim veröffentlichte, war auch Kunstkritiker und spezialisiert auf moderne Kunst. Entsprechend handelt dieser Band dann auch die bekannten „Eckdaten“, nämlich die Biographie Hergés, die Alben an sich und die Figuren vergleichsweise routiniert ab und zeigt als Herzstück immer wieder seine eigentlichen Qualitäten, indem er sich en detail auf die Zeichenkunst Hergés konzentriert.

Dies tut er mit vielen ganzseitigen Abbildungen und faszinierenden Detail-Ausschnitten der Originalzeichnungen (die inzwischen auf dem Kunstmarkt heiß begehrt sind und bei Versteigerungen in die Millionen gehen), die eindrucksvoll für sich stehen und zeigen, wie Hergé gearbeitet hat. Man erkennt darin noch Vorzeichnungen, Weiß-Korrekturen und Ergänzungen, sieht die einzelnen Tuschestriche und ist so ganz nah an der akribischen Entstehung der Seiten und Panels. Die wichtigen Kapitel kommen in der zweiten Hälfte des Buches: das über die Ligne Claire, die präzise Linienführung, die auf Schattierungen und Schatten verzichtet, die immer die gleiche Strichstärke aufweist und die ihre Urform im Kontrast des Schwarz-Weißen hat. Und die später auch in Farbe Bestand hat. Oder das Kapitel über moderne, abstrakte Kunst. Hergé sammelte zeitgenössische Werke, traf Andy Warhol und malte selbst in den Sechziger Jahren diverse abstrakte Bilder – weiter kann sich ein Comic-Zeichner stilistisch von seinem Werk nicht entfernen.

Der Band erfüllt damit beides: einmal bringt er Interessierten, die mit Tim und Struppi und deren Schöpfer Hergé noch nicht gänzlich vertraut sind, die Figuren, die Geschichten und deren Autor näher, indem er die bekannten Fakten präsentiert, setzt seinen Fokus dann aber auf den Kunstaspekt: nicht nur auf die Kunst Hergés selbst, sondern auch die, mit der dieser sich beschäftigte, moderne Kunst, die er sammelte und an der er sich selbst auch versuchte. Und stellt dann eine für viele unerwartete Verbindung zwischen der abstrakten, nicht greifbaren (ja, auch unverständlichen) Kunst und der klaren, bestimmten Linie her, die der Fantasie ebenso klare Grenzen setzt. Was einen interessanten gegensätzlichen und gleichzeitig verbindenden Aspekt darstellt und somit einmal mehr zeigt, wie universell und einzigartig Hergés Werk ist.

Pierre Sterckx, Hergé: Tim und Struppi – Die Meisterwerke von Hergé. Carlsen Verlag, Hamburg 2016. 240 Seiten, 49,99 Euro