Mensch und Natur – „Im Jahrtausendwald“

Japan gegen Ende der 1950er Jahre, irgendwo in der bergigen Region San’in im Südwesten des Landes. Nach einem Erdbeben ist hier auf wundersame Weise ein neuer Wald entstanden. Im Frühsommer kommt der zehnjährige Wataru aus Tokyo in die Gegend. Da seine Eltern sich scheiden ließen und seine Mutter krank ist, kümmern sich nun seine Großeltern um ihn. Der stille Junge geht dort in die Schule, findet aber nur schwer Anschluss und ist oft traurig. Bei einem seiner Solo-Streifzüge durch den Wald trifft er auf die Dorfkinder, die den „Tokyoter“ vor eine Mutprobe stellen: Er soll auf den „großen Baum“ klettern. Wataru nimmt die Herausforderung an und erweist sich als geschickter Kletterer. Immer höher, höher als alle anderen vor ihm, steigt er den riesigen Baum hinauf und glaubt dabei, die Stimme des Waldes zu vernehmen, die ihn ermutigt. Wataru, jetzt glücklich und endlich angekommen, verdient sich mit seiner Aktion nicht nur den Respekt der Kinder, sondern fühlt sich als Freund des Waldes.

Jiro Taniguchi (Text und Zeichnungen): „Im Jahrtausendwald“.
Carlsen, Hamburg 2018. 80 Seiten. 20 Euro

Im Jahrtausendwald“ ist das letzte Werk Jiro Taniguchis und wird leider nur ein Fragment bleiben. Der japanische Zeichner, auch in Europa hoch angesehen und verehrt (er wurde u. a. auf dem Comicfestival in Angoulême ausgezeichnet), starb 2017 im Alter von 69 Jahren, ehe er das Werk vollenden konnte, welches auf fünf Bände angelegt war und sich auch an junge Leser richten sollte. Der Comicteil der deutschen Ausgabe umfasst die 41 fertigen Seiten, bis die Handlung abbricht. Wie auch bei seinem Venedig-Band, der ursprünglich für Louis Vuitton entstand, wählte Taniguchi hier das Querformat und nutzte dessen Vorzüge aus, indem er ganz- oder gar doppelseitige Panorama-Ansichten des Märchenwaldes zeichnete, in opulenten Grüntönen und bevölkert von Fabeltieren, deren Bedeutung nun nicht endgültig geklärt werden wird. Mit Stil und Layout näherte sich damit Taniguchi weiter dem europäischen Comic an (die Reihe war für den französischen Markt bestimmt), jedoch ohne seine Manga-Wurzeln zu vergessen. Ein Trend, der bereits bei dem Louvre– und dem Venedig-Band erkennbar war.

Der ausführliche Sekundärpart geht auf die (geplante) Produktionsgeschichte des Bandes ein, das für eine zeitgleiche Veröffentlichung für den japanischen Markt ungewöhnliche Format (weil außerhalb jeglicher Norm und damit ungeeignet für eine Vorabveröffentlichung in Manga-Magazinen), angereichert mit etlichen Bleistift-Studien und Seitenentwürfen, die Jiro Taniguchi aufgrund seiner Krankheit nicht mehr realisieren konnte. Auch der weitere Verlauf der Story wird – soweit bekannt – skizziert, wobei das Verhältnis des Menschen zur Natur, ein charakteristisches Motiv Taniguchis, wieder eine große Rolle spielen sollte. Zusätzlich wird ein interessanter Einblick in die Arbeitsweise und den Schaffensprozess des Zeichners gewährt. Einige unkommentierte Skizzenseiten, eine kurze Biografie und gleich vier Nachrufe einiger Weggefährten Taniguchis beschließen den Band und damit auch das Werk des berühmten Mangakas.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.