„Der Henker“ – Göttliche Gerechtigkeit?

Ein grimmer Rächer mit übernatürlichen Kräften durchstreift Paris – aber er ist nicht allein.

Paris, irgendwann im Spätmittelalter: eine finstere Gestalt wacht über die Stadt. Namenlos, verborgen hinter einer Maske, führt er Aufträge der besonderen Art aus. Das Parlament von Paris sendet ihn, jene zu richten, die der Arm des Gesetzes nicht greifen kann. Denn der so genannte „Henker“ hat gleich mehrere übernatürliche Gaben: er ist unverwundbar – und er kann die Schuldigen zu einer beliebigen Zeit an einen von ihm bestimmten Ort leiten, um sie dort ihrer Bestimmung zuzuführen. Und wenn er auch noch wichtige Habseligkeiten der Opfer in die Finger bekommt, kann er auch ihre letzten Minuten nachempfinden.

henker_01_seite_01So geschieht das auch im Falle von Jehan Martin, der eine wehrlose Witwe getötet und ihr einen Ring gestohlen hat. Der Henker bringt den Missetäter publikumswirksam des Nachts zu Strecke, aber über seinen Boten spielt ihm der Rat von Paris eine brisante Botschaft zu: Jehan hat nicht alleine gehandelt, sein Mittäter Martin ist noch auf freiem Fuß. Als er auch dieses Opfer stellen will, greift ihn plötzlich ein alter Mann an und eröffnet dem Henker in einer Vision, dass die Dinge keinesfalls so liegen, wie es der Rat seinem treuen Diener glauben machen will. Martin ist kein kaltblütiger Mörder, sondern ein kleiner Junge, der sich mit seinem Vater Jehan nur gegen die sinistre Witwe zur Wehr setzen wollte. Aber bevor der Henker die ganze Tragweite erfassen kann, taucht plötzlich eine Gestalt in einem Harlekin-Kostüm auf, deren Kräfte die seinen noch weit zu übersteigen scheinen – und die gänzlich andere Pläne mit Martin zu verfolgen scheint…

Mathieu Gabella, der ja schon mit seiner Fassung des „Krieg der Knöpfe“ (Wolff) und dem „Einhorn“ (Splitter) zu beeindrucken wusste, gelingt mit seinem „Henker“ eine hintergründige Variante des Vigilanten-Mythos, der hier zunächst suggeriert und dann zunehmend dekonstruiert wird. Der finstere, namenlose Rächer, der sich als Instrument einer höheren Gerechtigkeit und Macht versteht, liegt mehr als nur einem Superhelden-Konzept zu Grunde – neben dem sprichwörtlich dunklen Ritter Batman steht die Figur Gabellas in nächster Nähe zum eher mythischen Gesetzeshüter Moon Knight, der seine Opfer ebenso bevorzugt Nachts zur Strecke bringt und dabei von überirdischen Mächten geleitet wird. Kaum ist der Mythos aufgebaut, unterläuft Gabella allerdings seine Konstruktion in Form des vom Volk schnell so genannten „Narren“: eine elegant-süffisante Verdrehung des Rächers, nicht nur optisch in Harlekin-Mütze abgehoben, sondern auch durch geschliffene Sprache und mühelose Kampftechnik ein Zerrbild des finster-dräuenden, intellektuell eher tumben Henkers. henker-int

In der zeitlich versetzten Parallelhandlung, in der in deutlicher Anlehnung an die Batman/Robin-Mythologie ein älterer Henker seinen jungen Nachfolger ausbildet, stellt sich währenddessen heraus, dass der Henker letztlich nur vom Rat benutzt wird, der auch in der Gegenwart die wahren Hintergründe des Mordes an der geheimnisvollen Witwe zu vertuschen sucht. So entsteht ein komplexes Erzählgerüst, das Fragen von Verantwortung, Macht und vor allem Moral (anstelle seine Aufträge zu hinterfragen, begnügt sich der Henker damit, angeblich ein Instrument Gottes zu sein und wird somit zum willfährigen Diener der Herrscher) aufwirft, die bewusste Auslöschung von Identität durch die Machthaber offen thematisiert und dabei in der Feder von Julien Carette auch optisch ein opulentes Panorama bietet. Paris erwacht hier in allem Schmutz, Lärm und Größe zum Leben, voller architektonischer Details, während die Vigilanten im Stile ihrer Inspirationen erscheinen – der Henker wirkt mit Fransenmaske und Kapuze wie eine Mischung aus Moon Knight, Scarecrow, Spawn und dem seligen Lumpenmann, und der „Narr“ wirft noch eine Prise Harley Quinn dazu. Somit ein Fest für alle Freunde von kritisch-modernen Dekonstruktionen aller selbst ernannten Mitternachtswächter, von vielschichtigen Reflexionen über Schuld, Sühne sowie Persönlichkeit und natürlich vom dunkel-faszinierenden Nimbus, der das Mittelalter durchzieht. Band 2 folgt.

Mathieu Gabelle, Julien Carette: Der Henker 1. Splitter, Bielefeld 2016. 56 Seiten, € 14,80.