„Shi“ – Mit einem Hauch fernöstlicher Mystik und Erotik

London im Jahre 1851. Hier wird gerade im Crystal Palace, einem neuen, riesigen Prachtbau, die erste Weltausstellung eröffnet, die v.a. das britische Empire feiert. Unter den hochwohlgeborenen Gästen und Honoratioren befindet sich die Familie Winterfield samt Tochter Jennifer. In der „Fernost-Abteilung“ entdeckt Jennifer eine Japanerin in traditioneller Kleidung, die ein totes Baby auf dem Arm hält. Darauf angesprochen eskalieren sowohl die des Englischen nicht mächtige Japanerin, als auch die gesamte Situation. Die Folge: die Winterfields sind entsetzt, das tote Baby wird verscharrt und die Japanerin kommt in die Klapse. Einfache Sache in der damaligen Zeit – mit der Jennifer jedoch ganz und gar nicht einverstanden ist. Die junge Frau, die von jeher unkonventionell und nicht dem traditionellen viktorianischen Frauenbild verhaftet ist, schnappt sich ihren Onkel, den Arzt Trevor Winterfield und befreit zuerst mit einem Trick die Japanerin, die Kitamakura (kurz Kita) heißt, und sucht dann mit Hilfe der Bettlerin Pickles die Leiche des Babys, um ihm und dessen Mutter ein anständiges Begräbnis zu geben. Das mutige wie gewagte Vorhaben läuft anfangs, nur um dann grandios zu scheitern. Mit extremen Folgen für Jennifer und Kita…

Mit Jennifer präsentiert der Serienauftakt von „SHI“ eine Heldin, die die damalige gesellschaftliche Norm der Frau durchbricht. Zum einen hat Jennifer eine Vergangenheit. Offenbar wurde sie in jungen Jahren und natürlich unverheiratet schwanger und zur „Behebung“ des Fauxpas‘ diskret in die Schweiz abgeschoben. Zum anderen pfeift sie auf das gängige Frauenbild. Sie hat ihren eigenen Kopf, fotografiert gerne (damals noch „photographiert“) und hat keine Lust, das brave, gehorsame Heimchen am Herd für die Männer zu spielen. Die toben sich dagegen aus und lassen in Freudenhäuser alle fünfe gerade sein. Und die arme Kita, die es offenbar aufgrund der Weltausstellung nach London verschlagen hat, ist nicht nur eine Fremde in einem fremden Land, sie verliert auch noch ihr Kind und man gewährt ihr keine Möglichkeit, es angemessen zu betrauern. Sie wird zum Spielball, zum Objekt degradiert und in die Irrenanstalt abgeschoben. Die Dritte im Bunde ist noch ein Kind und lebt am Rande der Gesellschaft. Pickles kennt die harte Schule des Lebens, schlägt sich als Bettlerin durch und verkauft ihren Körper. Alle drei, so scheint es, werden von den Regeln der von Männern bestimmten Gesellschaft eingeholt und müssen für ihren unkonventionellen „Ausflug“ einen hohen Preis zahlen, der den Rest ihres Lebens bestimmen soll.

Die Handlung bisher wird von Zidrou, der bei Splitter gerade eine Veröffentlichungs-Flut erfährt („Die neuen Fälle des Rick Master“, „Die Adoption“, „Percy Pickwick“), schon schlüssig wie packend und thematisch interessant geschildert: die Auflehnung gegen etablierte gesellschaftliche Strukturen, welche am Ende dann doch wieder zu gewinnen scheinen. Aber: wir haben hier noch zwei Prologe. Und vor allem der erste verleiht dem Geschehen dann noch eine ganz andere Dimension. Denn er findet – man höre und staune – in der Gegenwart statt. Wieder London: Der Waffenhersteller Lionel Barrington steht vor Gericht, da seine Antipersonenminen auch Unschuldige töten. Natürlich wird er freigesprochen. Zuhause in seinem Anwesen empfängt ihn seine Familie. Da explodieren zwei Minen… Prolog zwei zeigt unser bekanntes Trio – Jennifer, Kita und Pickles – das über den Dächern eines verschneiten Londons auf der Flucht vor Unbekannten ist, potenzieller Erzbösewicht inklusive. Diese Ausblicke bedeuten zum einen: Die drei Damen befreien sich aus ihrem Los. Und zwischen der Handlung von 1851 und der in der Gegenwart gibt es eine Verbindung: und die heißt SHI, was Japanisch ist und Tod bedeutet (Stammleser von Usagi Yojimbo wissen das bereits). Mehr verraten wir an der Stelle nicht.

Drei Alben werden noch folgen. Die beiden Prologe heizen den Leser gehörig an und die Story um die drei Damen schlägt in die gleiche Kerbe. Die ist von Zidrou clever aufgebaut und konstruiert und mit einer Prise fernöstlicher Mystik (die Rücken-Tätowierung Kitas und ihre seltsame Macht über die Insassen der Irrenanstalt) und Erotik garniert, wobei auch Situationskomik zum Zuge kommt. José Homs‘ Zeichnungen tun ihr Übriges. Schon bei der Comic-Umsetzung von Stieg Larssons Millennium-Trilogie (ebenfalls bei Splitter und auch mit Tätowierungen) bestach er mit seinem sanften, runden Stil, der einerseits realistisch, andererseits leicht stilisiert angesetzt ist. Hier glänzt er mit zeichnerischen Details, die die großzügigen Panels beinahe plastisch aussehen lassen. Dazu gesellen sich ausgeklügelte Perspektiven und eine außergewöhnliche Farbpalette, welche v.a. in den Nachtszenen eine großartige Atmosphäre verbreitet. Was zu einer Opulenz und zu einer beeindruckenden Optik führt, welche den Band vollends zum Volltreffer werden lässt.

Zidrou, José Homs: Shi, Band 1: Am Anfang war die Wut… Splitter Verlag , Bielefeld 2017. 56 Seiten, 14,80 Euro