Die Bento-Box neben dem jungen Zimmermann ist so kunstvoll in ein Tuch geschlagen, dass das Muster nicht durchbrochen wird. Das klassisch-amerikanische Jeanshemd sitzt leger, der Körper des Zimmermanns wirkt entspannt, fast, als würde er meditieren. Er hält ein Smartphone in der Hand. Seinen Blick sieht man nicht – die Augen werden durch seine sehr gepflegte Mähne und einen Bau-Helm verdeckt. Petra Lohmann sagt: „Das wirkt total modern, so ein Hipster-Style. Das ist zugleich auch sehr elegant, schnörkellos, so ein bisschen unaufgeregt auch. Der Mochizuki beobachtet auch sehr genau, es gibt ganz verspielte und detailverliebte Zeichnungen, es geht viel um kleine Einrichtungsgegenstände, um Essen auch oder um Kleidung, da achtet er sehr drauf und gibt damit den Charakteren so ein ganz bestimmtes Bild.“
Petra Lohmann ist Manga-Redakteurin beim Carlsen Verlag und hat „Chiisakobee“ nach Deutschland gebracht. Das Besondere daran: Hier geht es nicht nur um schöne Oberflächen, sondern auch um menschliche Katastrophen. Shigeji heißt der junge Zimmermann, der gerade die Nachricht bekommt, dass seine Eltern gestorben sind. In einem Feuer, das ein ganzes Stadtviertel niedergebrannt hat – auch den Zimmereibetrieb der Familie. Solche Kontraste baut Mangaka Minetaro Mochizuki immer wieder in seine Geschichten ein. Petra Lohmann sagt: „Der ist besonders, weil der ist ein Vertreter der neuen Generation von japanischen Zeichnern und Autoren, die es nach Europa schaffen nach den Klassikern wie Tezuka, Jiro Taniguchi oder auch der Katsuhiro Otomo, der ja mit Akira das ganze Genre hier geweckt hat in Europa – und der hat ihn auch genannt den begabtesten Mangaka seiner Generation.“Wer im Leben Erfolg haben will, braucht Willensstärke und Menschlichkeit. Das hatte der Vater gesagt, erinnert sich Shigeji. Mit der Willensstärke hat Shigeji kein Problem – er ist schon fast starrsinnig. Eigentlich könnte Shigeji das alles egal sein, schließlich hat er mit der Tradition gebrochen und damit auch mit seinen Eltern. Ihm liegt nichts daran, einen hervorragenden Traditionsbetrieb weiterzuführen, der immer wieder vor der Pleite steht. „Er hat ja diesen Bart, diese Haare im Gesicht, er versteckt sich ja und lässt sich ja auch nicht helfen, er bekommt ja immer mal wieder Geld angeboten für den Aufbau der Zimmerei. Er verkörpert auch so ein bisschen die japanische Gesellschaft, in der es um den Stolz geht und den Willen und um die Ehre, auch das allein zu schaffen. Trotzdem muss er einsehen, dass er nicht allein ist.“
Minetaro Mochizuki erzählt all das mit klaren und einfachen Strichen, als würde er Piktogramme zeichnen – die Frisuren der Protagonisten zum Beispiel stehen mitunter frei. Dann wieder zeichnet Mochizuki mit seinen einfachen Strichen die Körper der Protagonisten so spektakulär, wie es im Manga sonst eher für Wolkenkratzerlandschaften üblich ist – aus einer extremen Frosch- oder Vogelperspektive fängt er leise Gesten ein, die so viel über seine Figuren erzählen: ein unsicheres Nesteln der Hände, starre Schultern, ein Fuß, der fest auf dem Boden steht. Das ist so ganz anders, als zum Beispiel das Weltuntergangsszenario, das Mochizuki in „Dragon Head“ entworfen hat. Und trotzdem bleibt er seinen Motiven treu, meint Petra Lohmann vom Carlsen Verlag: „Es geht immer um die Frage: Wie Können Menschen zusammen klarkommen, wie überleben sie zusammen, wie finden sie zusammen, wie respektieren sie sich gegenseitig? Und das ist so der rote Faden, dieses Menschliche, das ist so ein bisschen auch der Kampf zwischen Individualität und gemeinsamem Leben.“
Denn die Kinder aus dem Waisenhaus sind alles andere als harmlos – sie pöbeln in der Nachbarschaft, zerschlagen in ihrer Wut schon mal eine Papierwand und haben dann wieder ein feines Gespür für ihre Mitmenschen, das berührt. Die Kinder aus dem Waisenhaus sind so komplexe Charaktere wie alle anderen Hauptfiguren und es lohnt, mit ihnen zusammenzuleben – das macht Mochizuki schon im ersten Band von „Chiisakobee“ deutlich.
Dieser Text erschien zuerst auf: Deutschlandfunk.
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.