Fünf Jahre Fukushima, 30 Jahre Tschernobyl – im Frühjahr 2016 hatten die größten Atomreaktorkatastrophen der Geschichte ihre Jahrestage, die Medien und Buchverlagen ein publizistisches Echo abverlangten. Seit der Begriff Graphic Novel in Feuilletons und Buchhandlungen reüssiert, stehen auch Comicverlage stärker unter dem ökonomischen Druck, ihr Programm taktisch nach medial verwertbaren Themen auszurichten. So verlangt’s der Kulturbetrieb, und mit dem darf man es sich nicht verscherzen. Und so erschienen gleich zwei Atomkraft-Comics ins Deutsche übersetzt, die konzeptionell zwar wenig gemeinsam haben, zugleich aber irritierend ähnlich sowohl ihren Themen als auch Leser/innen bloß nicht zu nahe treten wollen.
Der eine, die im spanischen Original bereits 2011 veröffentlichte Graphic Novel „Tschernobyl“ des Künstlerduos Natacha Bustos und Francisco Sánchez, zeichnet das fiktive Porträt dreier Familiengenerationen, die allesamt zu Leidtragenden der Ereignisse in Tschernobyl geworden sind. Der andere, der auf drei Bände angelegte Manga „Reaktor 1F“ von Kazuto Tatsuta, bietet Innenansichten der Aufräumarbeiten im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi aus erster Hand: Tatsuta, ein Pseudonym des Autors und Zeichners, das sich einem gleichnamigen Dorf des ehemaligen Sperrgebiets verdankt, hat ein Jahr nach dem GAU, im Herbst 2012, etappenweise im Werk Fukushima 1 für den Betreiber Tepco gearbeitet.

Kazuto Tatsuta (Autor und Zeichner): Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima Teil 1-3. Aus dem Japanischen von Jens Ossa. Carlsen, Hamburg 2016/2017. 192/192/176 Seiten. Je 12,99 Euro

Natacha Bustos (Zeichnerin), Francisco Sánchez (Autor): Tschernobyl. Rückkehr ins Niemandsland.
Aus dem Spanischen von André Höchemer. Egmont Graphic Novel, Köln 2016. 194 Seiten. 19,99 Euro
Da sind die Großeltern, die nach dem Reaktorunfall trotz Verbots in die verseuchte Zone zurückkehren und ihr Dasein auf ihrem kleinen Hof unter Lebensgefahr unbeirrt bis zum baldigen Tod fortführen. Assoziationen zu Raymond Briggs Achtziger-Klassiker „When the Wind Blows“ – dezente Bildzitate legen es nahe – sind ausdrücklich erwünscht.
Das junge Paar Vladimir und Anna führt indes in dem beschaulichen 50.000-Seelen-Ort ein harmonisches Familienleben, bis die Reaktorexplosion es grausam auseinanderreißt: Er, Arbeiter in dem Kraftwerk, stirbt nach monatelangen Qualen an den Folgen der Strahlung und Verbrennungen, sie, hochschwanger, wird gemeinsam mit dem Sohn Yuri evakuiert. Im dritten Abschnitt schließlich kehrt Yuri mit seiner Schwester Tatiana zwanzig Jahre später in die Geisterstadt, den Ort seiner Kindheit, zurück.
Credo: den Opfern ein Gesicht verleihen, das Fortwesen des Traumas bis in die Gegenwart offenlegen. Auch sonst wurden die zentralen historischen wie ästhetischen Aspekte berücksichtigt: der Versuch der Regierung, das Ausmaß des Unfalls herunterzuspielen; die Verzweiflung der Hinterbliebenen, die nach der Umsiedelung sich selbst überlassen wurden; das Elend der einstigen Liquidatoren, die heute abseits der Jahrestage weitgehend vergessen an den Spätfolgen laborieren. Ein sparsamer, skizzenhafter Schwarzweiß-Strich setzt das Sujet mit angemessener Zurückhaltung und gutem Kompositionsgespür ins Bild. Das Ergebnis ist bedacht, höflich, schuleinsatztauglich, und vermutlich deswegen lässt mich die Frage nicht los, wie viel formale Ambivalenz und radikale Kritik mutige Autoren wie Art Spiegelman, Jacques Tardi, Igort oder Riad Sattouf dem Stoff abgetrotzt hätten.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 04/2016
Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Junge Welt, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.

Seite aus „Reaktor 1F“ (Carlsen Verlag)