The horror! The horror! – „Herz der Finsternis“

Belgischer Kongo, Ende des 19. Jahrhunderts: Den abgehärteten Kapitän Marlow zieht es in düsterer Gemütslage in den noch in weiten Teilen unerforschten Kontinent. In einem gottverlassenen Außenposten der Anglo-Belgian India Rubber Company nimmt er daher einen dubiosen Auftrag entgegen: Seit geraumer Zeit ist der Kontakt zu einem der erfolgreichsten Elfenbein-Agenten abgerissen. Kurtz, so der Name des sagenumwobenen weißen Eroberers, sendet zwar nach wie vor Unmengen des weißen Goldes in Richtung Zivilisation – aber man munkelt, seine „Methoden“ seien unorthodox, ja abgründig geworden. Marlow macht sich in einem wackligen Kahn mit einer zusammengewürfelten Mannschaft auf die Reise immer weiter den schwarzen Fluss Kongo hinauf und trotzt dabei Natur und Angriffen von Eingeborenen aus dem Dschungel. Als er tatsächlich den Außenposten erreicht, eröffnet sich ihm ein apokalyptisches Bild: Kurtz regiert gottgleich in einer Schreckensherrschaft, die auch Marlow direkt in das Herz der Finsternis blicken lässt…

Joseph Conrads epochale Novelle aus dem Jahr 1899 nur als Kolonialismus-Kritik zu verstehen, kratzt noch nicht einmal an der Oberfläche. Natürlich geht es dem Polen Conrad, der jahrelang zur See fuhr, bevor er Englisch erlernte und zu einem der wortgewaltigsten Romanciers seiner Zeit avancierte, um eine Bloßstellung der Zustände in Belgisch-Kongo, jener „Privatkolonie“ des belgischen Königs Leopold II., die Conrad selbst 1890 auf einer Schiffsfahrt auf dem Kongo erfahren musste. Gnadenlose, unverhohlen kommerziell motivierte Ausbeutung erlebt auch Conrads Alter Ego Marlow an jeder Stelle seiner Reise: Die Eingeborenen vegetieren als Sklaven dahin, ihre Bodenschätze und Rohstoffe werden ihnen wie selbstverständlich entrissen – man hat Conrad vorgeworfen, er selbst beschreibe die Eingeborenen traditionell, als Wilde, aber diese Kritik ist verfehlt. Fremdartig erscheinen sie vielmehr, die teilweise kannibalischen Zügen frönenden Ureinwohner, aber Marlow selbst ertappt sich bei dem Gedanken, dass es sich nicht um Tiere, sondern um Menschen handelt. So weit, so gut gemeint, gegen den damaligen Kolonialismus-Diskurs eines Rudyard Kipling („East is East and West is West and never the twayn shall meet“) und ganz im Sinne eines George Orwell in „Burmese Days“.

David Zane Mairowitz (Text), Catherine Anyango (Zeichnungen): „Herz der Finsternis“.
Hinstorff Verlag, Rostock 2018. 128 Seiten. 18 Euro

Kurtz ist in seinem Außenposten seinem Machtrausch verfallen. Einst mit hehren Zielen, poetischer Kraft und visionären Ideen eines zumindest väterlichen Zusammenlebens gesegnet („by the simple exercise of our will, we can exert a power for good practically unbounded“), hat er quer über seine Aufzeichnungen gekritzelt: „Exterminate all the brutes!“ Offenbar haben die fürchterlichen Dinge, die er im Dschungel erblickt, „seine Seele verrückt gemacht“, wie es Marlow beschreibt. Aber hier nur die Binsenweisheit hineinzulesen, dass Kolonialismus und Gier entmenschlicht, kann den nachhaltigen Einfluss dieser Erzählung wohl kaum erklären. Vielmehr nutzt Conrad die Folie des Kolonialismus für eine Erforschung der moralischen Unbehaustheit des modernen Menschen an der Schwelle zum 20. Jahrhundert: Das Herz der Finsternis ist das eigene Herz, in das auch Marlow hineinsieht, ebenso wie die Reise entlang des Flusses nichts anderes ist als eine Reise ins eigene Bewusstsein.

Kurtz hat sich vollkommen von allen ethischen Bindungen gelöst und so die vollständige Freiheit ganz im existenzialistischen Sinne errungen: „The man had kicked himself loose of the earth!“, wie Marlow feststellen muss. So wird er zu dem, was T.S. Eliot Jahre später als die wertelosen, inhaltsleeren, eben „Hollow Men“ bezeichnete – nicht umsonst ist diesem Signatur-Gedicht der Moderne ein Zitat aus Conrads Novelle vorangestellt: „Mistah Kurtz – he dead“, so die lapidare Aussage eines Eingeborenen, die hier zum Motto erhoben wird. Kurtz hat sich selbst zum Gott stilisiert und scheitert letztlich an dem Fehlen jeglicher moralischer Koordinaten – letztlich bleibt ihm nur seine finale Erkenntnis über die menschliche Natur: „The horror! The horror!“ (In letzter Konsequenz wird auch Marlowe in die Dunkelheit gesogen: Zu Hause in London verheimlicht er Kurtz‘ Verlobten dessen Ende und behauptet, seine letzten Worte hätten ihr gegolten – eine gnädige Lüge, die die Realität nur unzulänglich verdrängt.)

Die moderne Welt, in der bei T.S. Eliot die anonymen Massen durch das „Waste Land“ wanken, darbt und wartet auf die Erlösung durch einen Mythos, einen Fischerkönig aus der Grals-Saga wie bei Eliot – oder eine Apocalypse wie bei Francis Ford Coppola, der die Zeitlosigkeit von Conrads Novelle klar erkannte und das Geschehen daher mühelos in das ultimative Dehumanisierungs-Szenario des Vietnam-Kriegs übertragen konnte (wobei im Gegensatz zur gängigen Deutung, dass Marlon Brando als Kurtz in der Schluss-Sequenz nur Unfug faselt, vielmehr durch Referenzen auf T.S. Eliot eben genau jene Brücke geschlagen wird).

In seiner Textadaption für diese Graphic Novel fokussiert sich David Zane Mairowitz vielleicht ein wenig zu stark auf den historischen Kontext. Das Geschehen ist auch durch Zitate aus Conrads Reisetagebuch von 1890 klar verortet und deutet somit kaum über sich hinaus, wie auch das Vorwort den Aspekt der Kolonialismuskritik betont und somit einen zweifelsohne wichtigen, aber nicht elementaren Bestandteil in den Mittelpunkt rückt. In diesem Kontext konzentriert sich Mairowitz allerdings auf die zentralen Szenen und skizziert Kurtz Weg in den Wahnsinn durchaus treffend. Kongenial dagegen ist die optische Gestaltung durch Catherine Anyango, die die Geschehnisse alptraumhaft, teilweise wie Visionen inszeniert, in durchgängig düsterem Duktus, der oft wie Kohlezeichnungen oder Radierungen wirkt. Insbesondere die unwirklichen Szenen im Dschungel oder das anfänglich symbolische Tableau eines Kriegsschiffs, das blind ins Dickicht feuert, werden damit beklemmend eingefangen. Somit eine legitime, optisch beeindruckende Umsetzung eines Werks, das in seinen Einsichten über die moderne conditio humana nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat.

Dieser Text erschien zuerst auf Comicleser.de.

Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.