„Flemings Bond hat bei der Altersangabe gelogen, um gegen die Nazis kämpfen zu können“

Der britische Autor Andy Diggle hat im vergangenen Jahr zur Comic-007-Serie von Dynamite Entertainment bereits „James Bond: Hammerhead“ beigetragen, der jüngst veröffentlichte Band „James Bond: Kill Chain“ (die gesamte Serie erscheint auf Deutsch beim Splitter Verlag) schließt direkt daran an. Will Nevin sprach für die US-amerikanische Tageszeitung „The Oregonian“ via Email mit Diggle über seine erste Bond-Serie, wie er den Spion sieht und was die LeserInnen von dem neuen Abenteuer erwarten können. Das gesamte Interview findet sich in der limitierten Deluxe-Edition von „Kill Chain“. Wir präsentieren exklusiv eine gekürzte Fassung mit freundlicher Genehmigung des Splitter Verlags.

„James Bond“-Autor Andy Diggle

Will Nevin: Als Dynamite dich engagierte, hattest du da Bedenken, Bond zu schreiben?
Andy Diggle: Unbedingt. Obwohl es ein Traumprojekt war, zögerte ich anfangs, das Angebot anzunehmen, denn ich hatte einfach zu viel zu tun. Meine Sorge war, dass ich der Figur nicht gerecht werden kann, wenn mir die Zeit fehlt. Zum Glück war man bei Dynamite gewillt zu warten, bis mein Terminkalender mehr Freiraum bot, wofür ich sehr dankbar bin. Denn Bond fordert deine ganze Aufmerksamkeit. Wenn man einen Fehler macht, merken es die Fans sofort.

Was hast du beim Schreiben von „Hammerhead“ und „Kill Chain“ über das Verfassen einer Bond-Story gelernt?
Vor allem, dass ich nie genug Seiten habe! Ich schreibe gern Szenen, in denen sich die Figuren unterhalten, aber ebenso lieb sind mir Actionsequenzen. Beides nimmt viel Platz in Anspruch und beides ist absolut notwendig für eine Bond-Geschichte. „Hammerhead“ und „Kill Chain“ hätten locker doppelt so lang werden können. Aber ich mag es, wenn Geschichten eine gewisse Dynamik entfalten. Und wenn man Geschichten komprimiert, werden sie besser. Ich nenne das „ein Schnapsglas mit Raketentreibstoff“. Wenn man nur zwanzig Seiten pro Heft hat, möchte man den Lesern für ihr Geld möglichst viel Spektakel bieten.

Wer ist „dein“ Bond? Was macht deinen Ansatz aus?
Sean Connerys Tonfall ist stets präsent in meinem Kopf, das muss ich zugeben. Aber der Bond aus Ian Flemings Romanen ist meine Hauptinspirationsquelle. Deshalb heißt die Serie ja auch IAN FLEMINGS James Bond. Ich wollte die Originalfigur, angepasst an die Gegenwart, aber frei von den inzwischen obligatorischen, fetischisierten Produktplatzierungen der Filme, der Walther PPK, dem Aston Martin, den Wodka Martinis.

Flemings Bond wird häufig als kalt bezeichnet, aber die Romane bieten oft auch Einblicke in sein Innenleben – sein Pflichtbewusstsein, seinen moralischen Mut, seine unbeugsame Widerstandskraft. Fleming schrieb diese Bücher in den 1950ern, als England sich vom Elend des 2. Weltkriegs erholte und es noch Rationierungen gab. Bonds stoischer Gleichmut – seine Fähigkeit, Folter, Entbehrungen und Leiden ohne Jammern und Selbstmitleid zu ertragen, müssen den Menschen im Nachkriegsengland sehr gefallen haben. Ich denke zum Beispiel an die berüchtigte Folterszene in „Casino Royale“, an die Sequenz in „Live and Let Die“, in der Bond über ein Korallenriff geschleift wird oder die Tortur im Abluftschacht in „Moonraker“. Bond übersteht alles. Und natürlich boten die Beschreibungen exotischer Schauplätze und guter Mahlzeiten – für die Normalbevölkerung damals unerreichbar – hochwillkommene Ablenkung.

Im Grunde ist Bond in zwei Welten zu Hause. Er kann charmant und brutal sein. Es fällt ihm leicht, blitzschnell die diplomatischen Umgangsformen fallenzulassen und seinen kriegerischen Impulsen freien Lauf zu lassen. Was immer ich mit Bond auch anstelle, es wird immer beides vorhanden sein.

Cover zu „James Bond: Hammerhead“ (Splitter)

In „Hammerhead“ ging es um das Britische Empire, die Geschichte wirkte wie eine pointierte Reaktion auf neonationalistische Phänomene à la Trump. Wie ist diese Geschichte entstanden?
Es ging nicht so sehr um Trump, sondern eher um das Aufkommen einer gewissen ultranationalistischen, rosarot angehauchten Nostalgie und Fremdenfeindlichkeit, die in England seit einiger Zeit hochkocht und ihren letztendlichen Ausdruck in der katastrophalen Entscheidung fand, die EU zu verlassen. Dazu kommt Englands beunruhigende Tradition, Waffengeschäfte mit despotischen Regimen wie dem in Saudi-Arabien zu machen. Wir wissen, dass Bond sein Leben für England riskiert, aber für welche Werte steht England eigentlich? Wofür kämpft Bond? Wie immer findet man die Antwort in den Originalromanen. Flemings Bond hat bei der Altersangabe gelogen, um gegen die Nazis kämpfen zu können. Das sagt alles.

Was hat bei der Arbeit an „Hammerhead“ am meisten Spaß gemacht? Was waren die Herausforderungen?
Es macht mir immer Spaß, über kluge, skrupellose Schurken zu schreiben. Und Bond-Storys haben in dieser Hinsicht quasi einen Standard geprägt. Mit Kraken, dem Schurken in „Hammerhead“, hatte ich eine Figur mit gigantischen Geldmitteln und einem verwegenen Plan, der zwar nicht sofort erkennbar ist, aber im Nachhinein offensichtlich erscheint. Und dann schicke ich Bond los, um diesen ausgeklügelten Plan zunichte zu machen. Fleming hat Bond als „stumpfes Instrument“ bezeichnet. Er ist sozusagen der Knüppel, der Schurken zwischen die Beine geworfen wird.

Das Schwierigste ist, Bond in lebensbedrohliche Situationen zu manövrieren, die er eigentlich nicht überleben kann… und ihn dann auf eine Art und Weise wieder rauszuholen, die plausibel erscheint. Wir leben ja in einer Welt, die „Austin Powers“ gesehen hat. Man kann Bond nicht „in eine aussichtlose Situation bringen, aus der er nicht entkommt und ihn dann eines exotischen Todes sterben lassen“. Mein innerer Scott Evil fragt ständig: „Warum erschießt du ihn nicht einfach?“

Es gibt eine Szene in „Kill Chain“, in der Bond mit Handschellen an eine Tischplatte gekettet ist und ihm jemand die Kehle durchschneiden will. Ich habe eine Weile gebraucht, bis mir einfiel, wie er das übersteht. Die Schurken dürfen keine Trottel sein. Man muss sich das Überleben verdienen.

Cover zu „James Bond: Kill Chain“ (Splitter)

Wann hast du begonnen, über „Kill Chain“ nachzudenken und wie hat sich die Geschichte entwickelt? Besonders der Titel klingt wie ein klassischer Bond-Titel.
Sobald ich wusste, dass diese Geschichten in der Gegenwart spielen, war mir klar, dass ich SMERSH wiederbeleben würde. Die Schurken in Flemings „Casino Royale“, „Live and Let Die“, „From Russia With Love“ und „Goldfinger“ haben alle für SMERSH gearbeitet, die russische Spionageabwehr. In den Filmen wurde SMERSH durch SPECTRE ersetzt.

Ich hatte seit Jahren Berichte über „aktive Maßnahmen“ Russlands im Westen verfolgt – lange bevor der Trump/Russland-Skandal publik wurde –, und es erschien mir verrückt, dass schon seit langer Zeit niemand mehr SMERSH benutzt hatte. Fleming schrieb zeitgenössische Geschichten, und wenn ich ihm nacheifern wollte, musste ich mir die Welt ansehen, in der wir heute leben. Mich faszinierten der Cyberkrieg, den Russland in der Ukraine führte, und Berichte, dass Russland hinter den gefakten Nachrichten über die Explosion in einer Chemiefabrik in Kolumbien steckte und ebenso hinter denen über einen angeblichen Ebolaausbruch im amerikanischen Atlanta. Beide wirken nun wie Machbarkeitstests für die viralen Desinformations-Kampagnen, die nun unsere Demokratie bedrohen.

Es ist eine etablierte Taktik Russlands, Extremisten von beiden Seiten des Spektrums anzuheizen, um bereits existierende Zellen zu vergrößern und einen Keil zwischen die NATO-Verbündeten zu treiben. Das hat man auch in England gemacht, indem man die antieuropäischen Isolationisten finanziell unterstützte. Alles, um die Einigkeit des Westens zu unterminieren. Und ich dachte… klingt das nicht nach SMERSH?

Der Titel „Kill Chain“ ist ursprünglich ein Militärbegriff, der benutzt wird, um die Struktur eines Angriffs zu beschreiben: Finden, Festmachen, Aufspüren, Anvisieren, Angreifen und Bewerten. Insgeheim wird die NATO angegriffen und Bond hat die Aufgabe, diese „Tötungskette“ zu durchbrechen und Sand ins Getriebe zu streuen. Aber der Begriff passt auch schön zur Methode, die SMERSH anwendet. Denn es wird eine Kette von Morden in Gang gesetzt, um die NATO-Verbündeten gegeneinander aufzuhetzen. Ein Schattenkrieg.

Ich habe „Kill Chain“ im Sommer 2016 vorgestellt, als die meisten Experten noch davon ausgingen, dass Hillary gewinnt. Ich machte einen Schritt zurück und versuchte, das große Ganze zu betrachten: Was will Russland? Die NATO schwächen, klar – aber warum eigentlich? Das muss Bond herausfinden.

Seite aus „James Bond: Kill Chain“ (Splitter)

Du arbeitest wieder mit Luca Casalanguida zusammen. Wie war diese Zusammenarbeit? Und was sind seine Stärken?
Die Arbeit mit Luca war eine der zufriedenstellendsten, die ich je erlebt habe. Es funktioniert einfach zwischen uns. Ich muss bei den visuellen Beschreibungen nicht übertreiben – er weiß einfach, was ich mit jeder Seite bezwecke. Obwohl wir in verschiedenen Ländern leben – ich in England und Luca in Italien –, können wir uns prima via Email verständigen. Denn wir vertrauen unseren Fähigkeiten als Erzähler. Ich bin immer offen dafür, wenn er eine bessere Idee hat, um einzelne Momente der Geschichte zu visualisieren. Er schickt mir eine kleine Skizze zu jeder Seite und dann diskutieren wir darüber, was funktioniert und was nicht. Oft habe ich das Gefühl, dass sein Storytelling so gut ist, dass man Bilder weglassen oder kombinieren kann, weil er alle wichtigen Informationen bereits eingearbeitet hat. Seine Zeichnungen machen mein Skript besser. Und seine Zeichnungen sind wunderbar dynamisch. Sieh dir nur die Autoverfolgungsjagd in der Wüste in „Hammerhead“ an. Bond springt aus dem Auto, rollt sich im Staub ab, der Wagen kommt quietschend vor ihm zum Halt, Bond wie ein Panther, der zum Sprung ansetzt… das ist pure visuelle Dynamik. Ich kann dir gar nicht sagen, wie aufregend es ist, sich so eine Actionszene ohne Dialog auszudenken und anschließend zu erleben, wie Luca sie zum Leben erweckt – besser als in meinen kühnsten Träumen! Luca holt alles aus Bond heraus, was man an dieser Figur so liebt. Über alle Inkarnationen hinweg. Er sieht nicht aus wie Sean Connery, Roger Moore oder Daniel Craig. Er sieht aus wie James Bond.