Digital besser nicht – „Bug“

Nichts geht mehr. Am 13. September 2041 geschieht etwas Unfassbares: Ein globaler Bug (später GDB – Global Digital Bug genannt) lässt mit einem Mal und aus heiterem Himmel sämtliche elektronische Daten weltweit verschwinden. Das heißt: Alle Festplatten sind leer. Alle Programme sind gelöscht. Der digitale Datenbestand ist fort. Komplett. Die Erde ist entdigitalisiert. Schnell zeigen sich fatale Folgen, zu sehr haben sich die Menschen an die inzwischen unverzichtbare Datenwelt gewöhnt, wobei das Fehlen von Handy-Kontakten nur eines der kleinen Übel ist: 144 Länder ordnen sogleich die Generalmobilmachung an. Flugzeuge stürzen ab, Operationen scheitern, Herzschrittmacher setzen aus, die Wirtschaft steht still. Bald herrschen Chaos und Anarchie, die Menschen bewaffnen sich. Mitten unter ihnen sind die junge Gemma und ihre Mutter. Beide bangen um Kameron Obb, Gemmas Vater, der im All für die Firma Lifedust One an einem Marsprojekt arbeitet. Obb erweist sich als Einziger Überlebender des Projekts. Als seine Retter aufgrund des GDB selbst zu Gestrandeten im All werden, ist er der Einzige, der den Rückweg zur Erde bewerkstelligen kann. Und noch mehr: Obb hat offenbar das komplette digitale Wissen, das verloren zu sein scheint, in sich vereint. Was ihn weltweit zum Objekt der Begierde werden lässt. Und mit ihm seine Tochter Gemma, die von Unbekannten entführt wird…

Enki Bilal (Text und Zeichnungen): „Bug“.
Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 88 Seiten. 24 Euro

Nachdem Enki Bilals letzte Trilogie in der Egmont Comic Collection verlegt wurde (mit dem Abschluss „Die Farbe der Luft“, 2015), kommt nun der Carlsen Verlag wieder zum Zuge. Hier erschienen damals Bilals Zusammenarbeiten mit Pierre Christin, düstere Politthriller wie „Treibjagd“ oder „Der Schlaf der Vernunft“. Jetzt beginnt Bilal mit „Bug“ eine neue Reihe, wieder mit Endzeit-Thematik, jedoch – zumindest bisher – nicht ganz so abstrakt und abgehoben wie die Vorgänger-Trilogie. Wobei er in diese Richtung in den Folgebänden noch diverse Vorstöße unternehmen könnte, wer weiß… Denn die Gründe für vieles – eigentlich für das meiste, was hier geschieht, bleiben noch im Dunkeln, im Verborgenen, wobei spekulieren erlaubt ist. Was hat es mit dem seltsamen Winz-Alien (ist es überhaupt eines?) auf sich (ebenfalls ein Bug – Käfer), das in Kameron Obbs Körper eingedrungen ist, und das womöglich der „Motor“ seines neuen, allumfassenden Wissens ist? Woher kommt die seltsame Wolke, die erstmals als Energie-Flash auftauchte und die sich auf der dunklen Seite des Mondes gebildet hat? Was bedeutet der leuchtend blaue Fleck in Obbs Gesicht, der ständig größer wird? Und dann – natürlich! – der Bug selbst. Woher? Von wem? Und wie und warum? Wir sind gespannt, was hiervon noch im Fortgang der Reihe aufgelöst wird.

Inzwischen verfolgen wir parallel das Schicksal von Gemma, die entführt wird, ehe die Regierung in Paris sie schützen kann – ausgerechnet von kleinen Gangstern, die sie als Druckmittel gegen ihren Vater benutzen wollen. Dann gibt es noch Amin, einen Psychopathen, der in Gemma vernarrt ist, sie auf eigene Faust sucht und ihr nichts Gutes will. Auf der anderen Seite verfolgen wir Kameron Obb, der angesichts der rapiden Entwicklung der Story oft überfordert zu sein scheint und wie ferngesteuert agiert (was er vielleicht auch ist). Obb landet auf der Erde, bei Gibraltar, das arg mitgenommen ausschaut (ob durch einen Krieg oder durch Folge des GDB bleibt unklar). Gibraltar wird von einem offenbar irren Kalifen beherrscht, der sein Augenlicht verliert… In der Tat spart Bilal nicht mit skurrilen Episoden und Begegnungen (wie das Phänomen der „Schwebestarre“). Der Leser muss sich wie immer in dieser neuen Welt zurechtfinden, in der der digitale Einfluss noch viel stärker ist, als ohnehin heute schon der Fall. Menschen verzweifeln und gehen psychisch zugrunde ohne ihre Online Welt. Obskure Mächte wie Nordkorea wittern dagegen Morgenluft, fühlen sich anderen, stärkeren gleichgestellt (welch verblüffende Aktualität!) und überlegen, ihre alten Atomwaffen einzusetzen. Der Islam hat an Macht gewonnen – neben der Kathedrale Notre-Dame in Paris steht nun eine Moschee, Gibraltar wurde Kalifat, wie auch Istanbul…

All diese Zukunftsvisionen, die der Leser für sich bewerten kann, muss oder soll (Bilal beschränkt sich auf das Zeigen und Präsentieren, vieles davon schon fast im Reportage-Stil), sind als ein typisches Bilal-Werk verpackt. Wir verfolgen Nachrichtensendungen, die die Lage auf der Erde beschreiben, treffen diverse Ich-Erzähler (Kameron Obb und Gemma), die sich mit dem auktorialen Erzähler abwechseln. Dazwischen wird der Leser auch durch Zeitungsmeldungen informiert (inkl. übler Rechtschreibung – eine elektronische Schreibkorrektur gibt es ja nicht mehr). Die optische Präsentation erfolgt auch ganz Bilal-typisch in breiten, großen Panels und dunklen, grauen Farben, geprägt von den charakteristischen Gesichtern mit den hohen Wangenknochen. Wobei die Story, bei der diverse Episoden offenbar in Sackgassen münden, immer etwas statisch erzählt wird, mit Personen, die eine seltsame stoische Ruhe ausstrahlen. Somit gilt auch beim neuen Bilal wieder: nicht einfach, leicht verstörend, aber stets faszinierend.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.